Skars Gedanken überschlugen sich für einen Moment. Sein Blick irrte zurück zu der Stelle, an der Del und die anderen auf ihn warteten, tastete - beinahe angstvoll - wieder über den schwarzen Rumpf des versteinerten Schiffes und blieben erneut an dem schmalen Streifen trübroter Helligkeit hängen. Seine Hand legte sich auf das Schwert, er zog die Waffe halb aus dem Gürtel und schob sie wieder zurück. Yar-gans Warnung fiel ihm ein. Er hätte zurückgehen und den Sumpfmann und die Krieger holen müssen. Sie wenigstens warnen.
Statt dessen ging er langsam in die Hocke, legte die Fackel zu Boden - schräg auf das versteinerte Tau gestützt und so, daß sie weder umfallen und erlöschen konnte noch die Flamme das Seil berührte -, richtete sich wieder auf und trat, nach einem weiteren, unmerklichen Zögern, auf das Schiff hinauf. Er erwartete instinktiv, das uralte Holz unter seinen Stiefeln knarren zu hören, aber der Schiffsrumpf saugte das Geräusch seiner Schritte im Gegenteil auf. Sein Herz begann schneller zu schlagen. Seine Handflächen waren feucht, als er das Achterdeck erreichte und sich neben der Luke auf die Knie sinken ließ. Er beugte sich vor, lauschte einen Moment und versuchte, durch die Ritzen zu spähen.
Alles, was er sah, war Licht. Rotes Licht und Schatten, wie symmetrische dunkle Flecken in den trüben Schein hineingeschnitten, und alles, was er hörte, waren das Geräusch der Wellen und sein eigener hämmernder Herzschlag. Wieder sah er auf und blickte in die Richtung zurück, aus der er gekommen war, und wieder flüsterte eine Stimme in ihm, daß er zurückgehen mußte. Es war nicht nur sein eigenes Leben, das er in Gefahr brachte.
Skar griff zögernd nach dem schweren Lukendeckel, spannte die Muskeln und hob ihn um Zentimeter an. Die Scharniere waren versteinert wie alles auf diesem Schiff, aber sie funktionierten noch: Die Luke schwang leicht und beinahe lautlos nach oben. Der Deckel war schwer, viel schwerer, als er erwartet hatte, und Skar mußte rasch nachgreifen, um ihn nicht wieder fahren zu lassen. Behutsam stand er auf, stemmte den Deckel ganz hoch und lehnte ihn gegen den Achteraufbau. Eine schmale versteinerte Holztreppe führte nahezu senkrecht in die Tiefe. Unter ihm lag ein langgestreckter, nach allem, was er erlebt hatte, wohltuend normal aussehender Raum.
Rotes Licht und Wärme schlugen ihm entgegen, als er in das Schiff hinabstieg. Skar blieb am Fuße der Leiter stehen, drehte sich einmal um seine Achse und lauschte. Wieder senkte sich seine Hand auf das Schwert, aber er zog die Waffe auch diesmal nicht. Es war beinahe unheimlich still hier drinnen. Selbst das kaum hörbare Geräusch, mit dem das Schwert aus der Scheide glitt, konnte ihn verraten.
Der Lichtschein kam vom entgegengesetzten Ende des Raums. Eine schmale, kaum anderthalb Meter hohe Tür führte tiefer in den Schiffsrumpf hinein, und als er weiterging, stieg ihm ein leichter Geruch wie nach schwelender Kohle in die Nase.
Es wurde wärmer. Auf den versteinerten Planken zu seinen Füßen glitzerte Wasser; Kälte, die unter dem warmen Hauch, der aus dem Leib des Schiffes heraufdrang, geschmolzen war. Skar ging vorsichtig bis zur Tür, sah sich noch einmal sichernd um und drang dann, gebückt, denn der Gang war so niedrig, daß er gegen die Decke gestoßen wäre, hätte er sich zu seiner vollen Größe aufgerichtet, tiefer in das Schiff vor. Licht und Brandgeruch wurden stärker, seine Gesichtshaut begann unter dem warmen Hauch zu prickeln. Der Gang führte zehn, zwölf Schritte geradeaus und endete vor einer schmalen, irgendwie geduckt wirkenden Tür, versteinert und schwarz wie alles hier, aber brüchig und von fingerbreiten gezackten Rissen durchzogen, so daß das Licht aus dem dahinterliegenden Raum hindurchschimmern konnte. Skar blieb abermals stehen und sah sich aufmerksam um. Seine Augen hatten sich an den blutigroten Schein gewöhnt; er erkannte mehr Einzelheiten seiner Umgebung. Direkt neben der Tür hing ein Bild, aus Holz geschnitzt und mit der Wand verwachsen. Die Zeit hatte seine Linien verwischt, er konnte nicht mehr erkennen, was es dargestellt haben mochte. Aber es waren normale Linien, nicht die sinnverwirrenden, verdrehten Winkel und Parallelen Cor-ty-cors. So wie auch dieses Schiff normal und menschlich war, dachte Skar. Es war fremd, vollkommen anders als jedes Schiff, von dem er jemals gehört hatte, aber trotzdem ein Gebilde, das von Menschen gebaut worden war. Er verscheuchte den Gedanken und legte vorsichtig die Hand auf die Tür. Sie schwang nach innen, kaum daß seine Finger das steinharte Holz berührt hatten.
Flackerndes rotgelbes Licht schlug ihm entgegen, und der Brandgeruch wurde so durchdringend, daß er ihm für einen Moment den Atem nahm. Zuckende Lichtblitze liefen in blitzschnellem Hin und Her über die gebogenen Wände und die Decke, und die Wärme wurde so intensiv, daß er instinktiv die Hand hob, um seinen Mantel zu öffnen, es aber dann nicht tat. Er stand so, daß er nur einen kleinen Teil des Raumes überblicken konnte, aber er sah jetzt nicht nur das Licht, sondern hörte auch das leise Knacken und Prasseln von Flammen. Warme Luft berührte ihn wie eine streichelnde sanfte Hand und trieb die Kälte unter seine Haut zurück.
Skar preßte sich neben der Tür gegen die Wand, schloß für einen Moment die Augen und lauschte.
Jetzt, als die Tür geöffnet war, erfüllten die Flammen den Gang mit einer Vielzahl knisternder und knackender Laute. Geräusche, die ihn die Kälte, die sich in seinen Gliedern eingenistet hatte, doppelt schmerzhaft spüren ließen, und nach einer Weile glaubte er eine menschliche Stimme zu hören, eine Stimme, die Worte in einer Sprache murmelte, die ihm fremd war und die ihm trotzdem auf eine seltsame Weise bekannt vorkam, als hätte er ihre Klangfarbe, ihren Ton schon unzählige Male gehört, ohne sich erinnern zu können, wo. Dann glaubte er Weinen zu hören, ein schmerzhaftes, nur mit Mühe unterdrücktes Schluchzen, dazwischen kratzende, harte Geräusche, als schramme Stahl über Stein oder Horn. Skar blieb noch eine weitere Sekunde reglos stehen, dann spannte er sich und trat mit einem entschlossenen Schritt durch die Tür und zog gleichzeitig sein Schwert. Seltsamerweise überraschte ihn der Anblick kaum. Im Gegenteil. Nach allem, was geschehen war, schien es ihm nur logisch, er empfand keinen Schrecken, keinen Zorn, nicht einmal Erstaunen - und wenn, so höchstens darüber, daß er nicht schon vor langer Zeit erkannt hatte, was Gowenna wirklich plante.
Sie waren beide da: Gowenna und die Errish. Dieses versteinerte Schiff am Rande der toten Stadt war der Endpunkt ihrer Wanderung, für jede der beiden Frauen auf ihre Weise.
Skar kam sich plötzlich albern vor, wie er so dastand, geduckt, jeder einzelne Muskel in seinem Körper gespannt und bereit zum Sprung, das Schwert so fest in der Hand, daß die Klinge vibrierte. Es gab hier nichts, wogegen er hätte kämpfen können. Der Kampf, der hier stattgefunden hatte, war vorüber. Schon lange.
Mit einer fast verlegenen Bewegung richtete er sich auf, ließ die Waffe sinken und trat zwischen die beiden Feuerschalen, die den Raum mit flackernder Helligkeit erfüllten. Er fühlte sich betäubt, leer - und unsagbar dumm. Alles war so klar gewesen, daß er es hätte wissen müssen; spätestens in dem Moment, in dem ihn Yar-gan über Gowennas wahre Identität aufgeklärt hatte.
Aber vielleicht hatte er es nicht wissen wollen.
Die Wärme der beiden Feuerschalen wurde unangenehm. In den flachen eisernen Becken brannten Stücke des versteinerten Holzes, die Flammen schlugen beinahe meterhoch und schleuderten kleine glühende Funken gegen die Decke: Skar wich einen halben Schritt zurück und öffnete seinen Mantel. Das rote Licht verlieh dem Bild etwas Unwirkliches und ließ es wie eine bedrückende blutige Vision erscheinen: eine irreale Szene aus einem Alptraum, verborgen hinter einem wogenden roten Schleier.
Gowenna sah ihn an, aber ihr Blick war leer und ins Nirgendwo gerichtet; sie sah zu ihm hin, aber sie sah ihn nicht. Eine einzelne Träne lief aus ihrem erloschenen Auge und malte eine dünne, glitzernde Spur in das verhärtete Narbengewebe darunter; er gewahrte es mit einer geradezu absurden Klarheit. Sein Gesichtssinn schien plötzlich verändert und nur noch selektiv zu funktionieren. Das Bild verschwamm immer stärker vor seinen Augen, aber er sah andere Dinge überdeutlich. Gowennas Haltung war verkrampft, wie die eines Menschen, der unerträgliche Qualen aussteht. Ihr Mund war zusammengepreßt, so fest, daß sich ihre Zähne in die Unterlippe gegraben hatten und Blut über ihr Kinn lief. Trotz der niedrigen Temperaturen hier drinnen trug sie nur ein dünnes, halb durchsichtiges graues Kleid; ihr Körper zitterte vor Kälte. Ihre Hände lagen, nebeneinander und so weiß, als gehörten sie nicht mehr zu ihrem Körper, sondern wären bereits abgestorben und tot, auf Velas Gesicht, die Handballen auf Stirn und Schläfen gepreßt, die Daumen rechts und links der Nasenwurzel, die Mittelfinger auf ihren geschlossenen Lidern, so fest, als wolle sie ihr die Augen ausdrücken. Wie Gowenna war Vela nur in ein dünnes graues Kleid gehüllt; ihr aufgequollener Leib zeichnete sich deutlich darunter ab, ihre Hände waren verkrampft, die Beine angezogen und leicht gespreizt, ihre Haut war fleckig und von der Kälte angegriffen, Finger und Zehen wiesen dunkle Erfrierungen auf. Trotzdem erschien sie ihm schöner und verlockender als jemals zuvor. Ihr Gesicht wirkte friedlich und sanft, und wenn sie tot war, so mußte sie einen sehr friedlichen Tod gestorben sein. Keine Schmerzen und keine Qual mehr. Die Schwangerschaft verunstaltete ihren Körper, aber sie ließ ihn auch gleichzeitig fraulicher und weicher erscheinen; jünger.