»Das ist es, Herr«, bestätigte Gajan leise. »Wir fürchten ihn nicht.«
»Aber ihr wißt, daß wir keine Chance mehr haben, lebend von dieser Insel herunterzukommen?«
Gajan nickte, als hätte er ihm eine Selbstverständlichkeit mitgeteilt. »Natürlich, Herr. Wir wußten es, als die SHAROKAAN sank.«
»Und trotzdem seid ihr mit mir gekommen?«
»Ihr seid Rayans Nachfolger, Herr. Sein Befehl gilt auch über seinen Tod hinaus. Und es liegt nicht in unserer Hand zu entscheiden. Wenn es der Wille der Götter ist, daß wir alle hier und heute sterben, so wird es geschehen.«
Skar antwortete nicht mehr. Gajans Worte waren überraschend sanft gewesen, aber auch sehr bestimmt, und er spürte, daß es keine leeren Phrasen waren, sondern daß der Mann an das glaubte, was er sagte. Für ihn, Skar, gab es keine Götter, und wenn, so nur zornige Götter, Götter, die Tod und Schmerzen und Leid brachten, aber wer war er, daß er diesen Männern ihren Glauben und das letzte bißchen Hoffnung nehmen durfte? Plötzlich beneidete er Gajan beinahe um seinen Glauben. Es mußte schön sein, an ein Weiterleben nach dem Tod - oder wenigstens eine göttliche Fügung, eine höhere Gerechtigkeit oder was auch immer - glauben zu können. Er konnte es nicht. »Noch ein Wort, Gajan«, sagte er, als der Matrose weitergehen wollte.
Gajan blieb abermals stehen und sah ihn an. »Ja?«
»Nur eine Frage«, murmelte Skar. »Und ich bitte dich, sie mir ehrlich zu beantworten.« Seine Stimme versagte ihm den Dienst, er schluckte, schmeckte bittere Galle auf der Zunge und fuhr erst nach sekundenlangem Schweigen fort: »Habe ich versagt?«
Gajan sah ihn an, schwieg.
»Ich habe es, nicht wahr?«
Der Matrose nickte. »Ja, Herr«, antwortete er. »Das habt Ihr.« Skar ließ seinen Arm los, wandte sich mit einem Ruck um und nickte knapp. »Ich danke dir«, schloß er. »Du kannst gehen. Sage Gowenna, daß ich... komme.«
Er wartete, bis Gajans Schritte auf dem harten Boden verklungen waren, dann drehte er sich abermals herum und stieg die steile Treppe hinab. Ein leises, wimmerndes Stöhnen und ein Schwall warmer Luft wiesen ihm den Weg. Gowenna hatte die Feuer zu größerer Glut entfacht und weitere Schalen aufgestellt; nach der grausamen Kälte an Deck war es hier unten beinahe zu warm, obwohl an den Wänden noch immer Eis glitzerte. Skar ging langsamer als nötig gewesen wäre, und am Ende des Ganges blieb er noch einmal stehen und zögerte unmerklich; fast, als könne er das Geschehen aufhalten, indem er einfach die Augen verschloß und sich wie ein Kind unter eine Decke verkroch, um die Ungeheuer aus seinem Traum auszusperren. Aber er war kein Kind, und dies war kein Traum. Mit einem resignierenden Kopfschütteln ging er weiter.
Es konnte nur noch wenige Augenblicke dauern. Vela war wach, ihre Augen waren einen Spaltbreit geöffnet, und ihr Körper wurde in immer rascherer Folge von heftigen, krampfartigen Wehen geschüttelt. Ihre Hände waren verkrampft, die Fingernägel fuhren mit kratzenden Geräuschen über den steinharten Boden, einige waren abgebrochen und blutig. Es war keine leichte Geburt. Gowenna hatte sich hinter sie gekniet und stützte ihren Oberkörper, so daß sie halb sitzend, halb liegend mit weit gespreizten Beinen und angezogenen Knien dahockte. Trotz der Kälte glänzte ihre Haut vor Schweiß, und als Skar näher herantrat, sah er, daß aus Velas Mund und Nase dünne, hellrote Blutfäden sickerten. Er erschrak. Sie stirbt! dachte er entsetzt. Er wollte noch näher herantreten, aber Gowenna hielt ihn mit einem raschen Kopfschütteln zurück. Er blieb stehen.
Gowennas Hände strichen beruhigend über Velas Haar. Sie beugte sich vor, flüsterte der Errish etwas ins Ohr und tauschte einen raschen Blick mit Yar-gan. Der Sumpfmann kniete vor Vela nieder und machte sich an ihrem Leib zu schaffen; Skar konnte nicht erkennen, was er tat. Er wollte es auch gar nicht wissen.
Die Situation kam ihm immer absurder vor. Gowenna hatte diese Frau gehaßt, mit jeder Faser ihrer Seele gehaßt. Sie hatte sie bis ans Ende der Welt gejagt und unvorstellbare Entbehrungen auf sich genommen, um sie zu stellen und ihre Rache zu vollziehen - und jetzt hielt sie sie im Arm, schaukelte sie wie ein fieberndes Kind, flüsterte ihr beruhigende Worte ins Ohr und kämpfte mit der gleichen verzweifelten Kraft um ihr Leben, mit der sie sie vorher verfolgt hatte.
Skar wußte nicht, wie lange es dauerte - Sekunden, Minuten, vielleicht Stunden. Er stand einfach still da, wie ein unbeteiligter Zuschauer. Die Krämpfe, die den Körper der Errish durchrasten, wurden stärker, und nach einer Weile kamen die Wehen so schnell hintereinander, daß die Pausen dazwischen nicht mehr wahrzunehmen waren. Es war nicht das erste Mal, daß Skar die Geburt eines Kindes miterlebte, aber er hatte noch nie eine Niederkunft gesehen, die so voller Schrecken war wie diese. Vela begann zu schreien und sich zu winden, so heftig, daß Yar-gans und Gowennas vereinte Kräfte kaum ausreichten, sie zu halten. Sie blutete aus Nase, Mund und Ohren, und ihr Atem wurde von einem rasselnden Geräusch begleitet.
Sie starb, als der Kopf des Kindes sichtbar geworden war.
Ihr Körper bäumte sich in einem letzten qualvollen Zucken auf, und über ihre Lippen kam ein Schrei, der nichts Menschliches mehr hatte. Dann erschlaffte sie. Der Blick ihrer weit geöffneten, blutenden Augen brach.
Gowenna schrie auf, warf sich mit einer verzweifelten Bewegung über ihren Leib und begann zu pressen, und Skar drehte sich endgültig um. Übelkeit stieg in ihm hoch. Er sah nicht mehr, was geschah, aber er hörte Laute, schreckliche Geräusche, die er nie wieder vollkommen vergessen sollte und die nichts mehr mit einer normalen Geburt gemein hatten. Gowenna rief etwas, das Skar nicht verstand, Yar-gan antwortete in der gleichen Sprache, dann sah er den Sumpfmann aus den Augenwinkeln aufspringen, zu den Feuerschalen stürzen und einen Dolch aus der brennenden Kohle ziehen. Seine Klinge glühte rot, und der lederbezogene Griff schwelte bereits.
Skar schloß die Augen, preßte die Stirn gegen die Wand und schlug die Hände vor die Ohren. In seiner Brust begann sich wieder dieser Druck aufzubauen, ein Gefühl, als würde eine Stahlfeder bis zum Zerreißen gespannt, immer weiter gespannt, immer und immer und immer weiter...
Er schrie auf, als ihn Gowenna an der Schulter berührte. Ihre Hand war feucht und warm, und Skars Übelkeit wurde unerträglich. Mühsam kämpfte er den Brechreiz nieder, der in seiner Kehle emporstieg, drehte sich um und sah Gowenna an. Ihr Gesicht wirkte erschöpft und müde, aber in ihren Augen stand ein seltsames Flackern, ein Ausdruck, den er nie zuvor an ihr gesehen hatte.
»Komm.«
Skars Herz begann wie rasend zu hämmern, als er neben ihr auf Vela und Yar-gan zuging. Der Sumpfmann kniete neben der toten Errish und drehte ihm den Rücken zu, aber die Haltung seiner Schultern verriet Skar, daß er etwas in den Armen hielt. Es schreit nicht, dachte er. Kinder schreien, wenn sie geboren sind. Es schreit nicht. Es muß tot sein. Aber gleichzeitig spürte er, daß es nicht tot war, daß es lebte und genau in diesem Moment erwachte, zum ersten Mal so etwas wie einen bewußten Gedanken formte, die Welt, in die es geboren worden war, mit unsichtbaren Händen betastete und befühlte...
Er blieb stehen. Er wollte nicht weitergehen. Mit einem Male hatte er Angst, unsägliche Angst, die nächsten Schritte zu tun und das Kind zu sehen, aber Gowenna schob ihn mit sanfter Gewalt weiter.
Yar-gan richtete sich auf, als er neben ihm stehenblieb. Das Kind lag in seinen Armen, unendlich klein und verloren in den gewaltigen Pranken, die sich der Sumpfmann von Del geliehen hatte.
Es war ein ganz normales Kind, klein und mit dem zerknautschten Greisengesicht der meisten Neugeborenen, noch voller Blut und Schleim, und Skar fragte sich bestürzt, was er erwartet hatte. Ein Monster? Ein spinnenköpfiges schwarzes Ding mit Krakenarmen und Pferdefuß und Vampirzähnen? Es war ein normales Kind. Es sah normal aus, und es war normal, das wußte er, ganz plötzlich. Er spürte die Macht, die hinter der Stirn dieses winzigen Wesens schlummerte, aber gleichzeitig wußte er - und es waren genau diese Worte, die er dachte, Worte, über die er noch vor Augenblicken gelacht hätte -, daß es unschuldig und rein war wie alle Neugeborenen, und daß, wenn es böse werden würde, sie es waren, die das Böse in seine Seele pflanzen würden.