Wolfgang Hohlbein - Die Enwor Saga 7
Das schweigende Netz
Umschlag: Der Graph, Wien
Illustrationen: Christian Mogg
Ungekürzte und genehmigte Lizenzausgabe für Tosa Verlag, Wien
© der Originalausgabe 1988 by Wilhelm Goldmann Verlag GmbH, München
© der vorliegenden Ausgabe 1996 by Tosa Verlag, Wien
Gesamtherstellung: Der Graph, Wien
Coverrückseite
Schwer haben Menschen und Quorrl gekämpft, um die scheinbar unbezwingbare Festung einzunehmen - es war ihr erster Sieg gegen die Sterngeborenen. Doch ihre Feinde haben eine grausame und heimtückische Waffe zurückgelassen: eine Waffe, die bewirkt, daß sich Quorrl und Menschen, die endlich zusammen kämpfen, entzweien und gegeneinander zum Kampf antreten.
1.
Manchmal hatte er das Gefühl, ihn zu sehen. Er wußte, daß es nicht wahr war; bloß eine Illusion, mit der ihn ein Teil seines Bewußtseins terrorisierte, seit er hierhergekommen war, und vielleicht schon länger, aber manchmal war das Gefühl übermächtig. Er hatte etwas falsch gemacht; etwas übersehen, etwas vergessen, etwas falsch gedeutet - irgend etwas, von dem er nicht wußte, was es war, das ihn aber quälte; wie ein nicht näher lokalisierbarer Schmerz immer da war, gleich, ob er wachte oder schlief. Und der Daij-Djan war gekommen, um ihn an diesen Fehler zu erinnern. Selbst jetzt brauchte er nur die Augen halb zu schließen und sich vollkommen zu entspannen, bis seine Sehschärfe nachließ, um ihn wahrnehmen zu können: eine winzige, schlanke Gestalt von der Farbe der Nacht, die auf der anderen Seite des Flusses auf einem Felsen stand und ihm zuzuwinken schien. Er war nicht wirklich da - Skar hätte ihn nicht einmal sehen können, hätte er dort gestanden, denn jener Felsen war viel zu weit entfernt, um mehr als ein vereistes Funkeln im Sternenlicht zu sein, aber ein Teil von ihm sorgte dafür, daß er die Schimäre sah, immer und immer und immer wieder. Manchmal hörte er auch seine Stimme: All diese Toten, Satai. All diese ausgelöschten Leben. Und du hast noch nicht einmal richtig begonnen. Willst du die ganze Welt ausrotten? Er verscheuchte den Gedanken, beugte sich ein wenig über die Brüstung und zwang sich, den Felsen auf der anderen Seite des Flusses als das zu sehen, was er war: ein mannshoher Steinklotz, den der Winter mit einem Eispanzer umhüllt hatte, und mehr nicht! und blickte dann nach links. Die Feuer brannten noch immer, und selbst über große Entfernung - es mußte eine Meile sein oder mehr - war ihr Licht so grell, daß es in den Augen schmerzte.
Dels Satai hatten die letzten Toten aus der Burg geschafft, hinunter auf den großen Platz am Ufer des Flusses, wo sie verbrannt wurden. Die Scheiterhaufen brannten seit zwei Tagen, und sie würden weitere zwei - mindestens zwei, wenn nicht mehr - Tage brennen, ehe die letzten Spuren der Schlacht getilgt waren. Vor einer Stunde, genau mit dem Untergang der Sonne, hatte der Wind gedreht, und die Böen trugen den fettigen schwarzen Qualm jetzt nicht mehr hinaus in die Ebene, sondern direkt hierher, hinauf zu den Zinnen von Drasks Trutzburg, wo er wie übelriechender Nebel durch jede Spalte und jeden Ritz kroch und das Atmen zur Qual werden ließ. Der Gestank war entsetzlich, und auf allem, was dieser schreckliche schwarze Qualm berührte, hinterließ er eine unsichtbare, fettige Schicht, die einem das Gefühl gab, durch flüssigen Leim zu waten. Alles schien klebrig zu sein, und auf eine unangenehme Art warm. Die Rache der Toten, dachte Skar, die ihren Mördern nicht als Gespenster im Schlaf erschienen, sondern als übelriechender Qualm, der ihnen den Geschmack an jedem Essen und jedem Schluck Wasser vergällte. Und hier im Freien war es besonders schlimm.
Trotzdem war Skar hier oben geblieben. Mit dem Abend war es - absurd genug - spürbar wärmer geworden, und manchmal trug der Wind außer Gestank und Qualm und dem unablässigen Prasseln des Feuers auch ein schweres, dumpfes Splittern und Knirschen mit sich. Die dichten Rauchwolken über der Burg nahmen Skar die Sicht auf den Fluß, aber er wußte, was diese Laute bedeuteten: Die mächtigen Schollen, die zwei Drittel der Fahrrinne noch immer blockiert hatten und an denen ihr ganzer Angriff um ein Haar gescheitert wäre, zerbrachen jetzt endgültig unter den Hammerschlägen des Frühlings.
In einer, längstens zwei Wochen war der Fluß eisfrei. Das neue Jahr stieß das Tor nach Osten für sie auf.
Er dachte diesen Gedanken völlig kalt. Er spürte keine Erleichterung, keine Zufriedenheit, keine Furcht - all dies hätte er fühlen sollen, denn eine schnelle Verbindung nach Osten war Grundvoraussetzung für das Gelingen ihres Invasionsplanes -, aber sie bedeutete auch, daß er in wenig mehr als zwei Wochen an der Spitze von Dels Heer in eine apokalyptische Schlacht ziehen würde, von der keiner von ihnen wußte, ob er sie überlebte. Aber er empfand gar nichts.
Wie so oft in letzter Zeit.
Manchmal - und diese Momente häuften sich - fragte er sich allen Ernstes, ob etwas in ihm gestorben war, als Bradburn das Sai-Tan vorgenommen hatte. Er hatte geglaubt, etwas bekommen - etwas zurückgewonnen - zu haben, aber vielleicht stimmte das gar nicht. Etwas war in ihm, etwas Neues und zugleich auf schreckliche Art Bekanntes und Altes, aber manchmal kam er sich vor, als stürbe er innerlich; sehr langsam, so daß er es selbst kaum merkte, aber unaufhaltsam. Selbst vor zwei Tagen, als sie Drasks Burg genommen hatten - er versuchte sich daran zu erinnern, aber es gelang ihm nicht; er besann sich nur auf Dinge, die er getan hatte, auf Handlungen und Worte, nicht auf das, was er gefühlt hatte -, hatte er nichts empfunden. Im wahrsten Sinne des Wortes nichts. Aber er hatte erst hinterher begriffen, daß es nicht die Kälte und Gelassenheit des Kampfes war, die er gespürt - oder vielmehr gerade nicht gespürt hatte, sondern die berechnende Gefühllosigkeit einer Maschine, die auf Kämpfen und Töten programmiert war und diese Aufgabe perfekt erfüllte. Ja, dachte er; Del hatte recht. Er hatte sich verändert, seit er vor drei Monaten im Tempel der Gesichtslosen Prediger tief unter den Bergen erwacht war. Er wußte noch nicht, was diese Veränderung in ihm bewirkte und was sie verursacht hatte, aber er hatte das Gefühl, daß es kein Wandel zum Guten war. Ein Geräusch irgendwo hinter ihm rief ihn in die Wirklichkeit zurück. Skar sah auf, identifizierte den Laut als das Öffnen der niedrigen Tür, die vom Treppenturm aus auf die Plattform des Turmes hinausführte, und drehte sich ohne spürbare Hast um. Auch dies war ein Luxus, den er seit langer Zeit zum ersten Mal wieder genoß: einen Laut hinter sich zu hören und sich umzuwenden, ohne Angst haben zu müssen oder gar - noch vor Monatsfrist unvorstellbar! - einfach stehenzubleiben. Er lächelte, als er den verwirrten Ausdruck auf den Zügen des jungen Satai-Schülers sah, der den Grund dieses Lächelns natürlich nicht wissen konnte und dadurch noch ein bißchen verwirrter wurde. »Herr?«
Skar schluckte die scharfe Antwort hinunter, die ihm dieses Wort abverlangen wollte. Er hatte es aufgegeben, den Novizen immer und immer wieder zu sagen, daß sie ihn nicht Herr nennen sollten; vor allem, seit Del ihm nunmehr auch offiziell das Kommando über die Satai gegeben hatte. Er hatte es nicht gewollt, aber es war das kleinere von zwei Übeln gewesen - die Satai oder die Quorrl. Etwas in ihm hatte aufgeschrien wie ein getretener Hund, allein bei dem Gedanken, an der Spitze eines Heeres vierzigtausend fischgesichtiger Quorrl zu stehen.
Nun, dachte er spöttisch, jetzt stand er an der Spitze eines Heeres von fünfhundert Satai, wenngleich die meisten von ihnen noch kaum mehr als Kinder waren, wie dieser Bursche, der jetzt unter der Tür verharrte und linkisch von einem Fuß auf den anderen trat, unentschlossen, wie er auf Skars Schweigen reagieren sollte, Skars, des Halbgottes, der lebenden Legende, des Unbesiegbaren, des Satai schlechthin. Unentschlossen und auch ein bißchen ängstlich, wie es sich gehörte, wenn man einem Gott unter die Augen kam; einem Gott, der auch ein bißchen von einem Dämon an sich hatte. Aber vielleicht hatten das alle Götter. Skar schätzte den Burschen auf sechzehn Jahre, allerhöchstens siebzehn. Er war so groß wie er und fast so breitschultrig wie Del, aber sein Gesicht war das eines Knaben. Es würde noch lange dauern, ehe sich der erste Bart auf seinen Wangen zeigte. Skar wurde sich der Tatsache bewußt, daß er dastand und den Novizen anstarrte, was dem armen Burschen wahrscheinlich Höllenqualen bereitete. Er versuchte, sein Lächeln ein wenig freundlicher aussehen zu lassen, und trat von der Brüstung zurück. Der Wind drehte sich ein wenig und wehte eine schwarze, fettige Qualmwolke über die Zinnen, die ihn für Momente einhüllte wie ein Mantel aus geronnener Nacht. Skar fühlte sich leicht angeekelt, als er die Berührung des schwarzen Qualmes wie die einer klebrigen Hand auf der Haut spürte. Aber auf dem Gesicht des jungen Satai spiegelten sich ganz andere Empfindungen, und Skar begriff, wie der Anblick auf ihn wirken mußte. Ein Sandkorn mehr, um das Gebirge aus Legenden und Furcht, auf das sie ihn gestellt hatten, noch höher zu machen. Ihr Götter, dachte er, was ist aus Enwor geworden? Was geschieht mit uns? Laut sagte er: »Bitte?«