Skar erstarrte, als er das Gesicht sah, das darunter zum Vorschein gekommen war. Er blieb mitten im Schritt stehen, tauschte einen erschrockenen Blick mit Del und ging unsicher weiter, als dieser abermals eine auffordernde Bewegung mit der Hand machte.
Zögernd, so vorsichtig, als befürchte er ernsthaft, der Tote könne plötzlich die Augen aufschlagen und nach ihm greifen, ließ er sich neben der reglos daliegenden Gestak auf ein Knie herabsinken und streckte die Hand aus.
Es war eine Frau. Sie war wesentlich älter als das Mädchen auf der grünen Echse, aber jünger als Del oder gar er - und es war eine Errish, wenn er jemals eine gesehen hatte. Ihre weit offenstehenden Augen waren von dem strahlenden, makellosen Weiß, das nur bei einer Errish zu sehen war, und auf ihrer rechten Schläfe befand sich eine winzige, hellviolette Tätowierung, die dem Kundigen ihren Rang in der Kaste der Drachenherrinnen verriet. Für einen ganz kurzen, aber schrecklichen Moment fragte er sich entsetzt, ob sie vielleicht dem Falschen geholfen hatten. Aber trotzdem war es nicht das, was ihn so erschütterte. Was ihn traf und was die Ursache für das abgrundtiefe, mit Furcht gemischte Erschrecken in Dels Augen gewesen war, war ihr Gesicht.
Etwas ... bedeckte es.
Im allerersten Moment glaubte er, es wäre ein Muster aus geronnenem Blut, das auf ihren Zügen erstarrt war, aber das stimmte nicht. Es war ... ein Gespinst, dachte er angeekelt, etwas wie ein schwarzes, weitmaschiges Netz aus haardünnen glitzernden Fäden, schwarze Spinnweben, die einem Muster zu folgen schienen, das er nicht zu erkennen vermochte, das aber da war. Keiner der Fäden war dicker als ein Haar, aber sie erschienen Skar sehr fest, und irgendwie ... lebendig. Es war, als bewegten sie sich, so sacht und auf so sonderbar falsche, fremdartige Weise, daß er diese Bewegung nicht wirklich sehen konnte, aber sehr deutlich fühlte.
»Großer Gott, Del - was ist das?« murmelte er.
Del erwiderte nichts, aber er spürte sein Achselzucken und die Bedrückung, die der andere ebenso wie er empfand. Es war nicht einfach so, daß der Anblick allein furchterregend oder ekelhaft gewesen wäre - jeder von ihnen hatte Dinge zu Gesicht bekommen, die zehnmal erschreckender und hundertmal widerwärtiger waren - aber er war... bedrohlich. Falsch, auf unmöglich in Worte zu fassende Art.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Del schließlich doch. Mit zwei Schritten umrundete er den Leichnam der Errish und ging Skar gegenüber in die Hocke, hielt aber weitaus mehr Abstand zu der Toten ein, als nötig gewesen wäre. Er spürt es auch, dachte Skar. Selbst die Quorrl, die in kleinen Gruppen auf dem Schlachtfeld standen, hielten fast respektvollen Abstand zu den Toten. Skar fiel auf, daß niemand auch nur versuchte, die Leichen auszuplündern.
»Sie haben es alle.«
Skar sah auf, und Del machte eine erklärende Handbewegung. »Es sind alles Errish, Skar. Und sie haben alle dieses... Ding.« Er schluckte. »Mach ihre Rüstung auf.«
Skar gehorchte, wobei ihm eine innere Stimme riet, es besser nicht zu tun, denn er mochte Dinge sehen, die er eigentlich gar nicht sehen wollte. Dessen ungeachtet beugte er sich vor, suchte mit den Fingern nach einer Lücke in der schwarzen Panzerung der Errish und zog mit einem kräftigen Ruck.
Der Brustharnisch der sonderbaren Rüstung zerbrach mit einem Laut wie zersplitterndes Glas, und Skar starrte verblüfft auf das, was er für geschwärztes Eisen gehalten hatte. Es war kein Metall. Es war Horn!
Verwirrt blickte er auf die scharfkantigen kleinen Scherben herab, die er plötzlich in der Hand hielt, ließ sie schließlich fallen und beugte sich wieder über die Tote.
Er hatte den Anblick erwartet, aber er erschreckte ihn trotzdem.
Das schwarze Gespinst beschränkte sich nicht nur auf ihr Gesicht, sondern erstreckte sich weiter. Wie ein Netz aus der Haut gequollener Adern zog es sich an ihrem Hals herab und verschwand im Ausschnitt des braunen Lederwamses, das sie unter der Rüstung trug, und Skar mußte seine Phantasie nicht sonderlich strapazieren, um sich vorzustellen, welcher Anblick sich ihm bieten würde, wenn er das Hemd aufschnitt.
Trotzdem tat er es.
Das Netz war hier weitmaschiger, und die Fäden dicker. Unter den Brüsten der Toten erreichten sie die Stärke eines Kinderfingers, und hier und da gewahrte er kleine, glitzernde Klümpchen des gleichen Materials, die sich an den Knotenstellen der Fäden gebildet hatten und sanft pulsierten, in unregelmäßigem, aber erkennbarem Rhythmus. Der Anblick erinnerte ihn an etwas. Er hatte etwas wie dies schon einmal gesehen, in anderer Form und anderem Zusammenhang, aber er wußte nicht mehr, wann und wo.
Fast behutsam breitete er das zerschnittene Wams wieder über dem Oberkörper der Toten aus und kroch ein kleines Stück von ihr fort. Wie Del war er plötzlich sehr darauf bedacht, diesem entsetzlichen Etwas nicht zu nahe zu kommen.
»Sie haben alle dieses... dieses Netz, sagst du? Ihr habt sie alle untersucht?«
Statt einer direkten Antwort zog Del seinen Dolch aus dem Gürtel, beugte sich vor und verlängerte den Riß, den Skar in das Gewand der Toten geschnitten hatte. Skar erkannte, was er meinte, ohne daß es eines weiteren Wortes der Erklärung bedurft hätte.
Das schwarze Netz hüllte den Körper der toten Errish vollkommen ein, und in seiner Mitte, zwei Fingerbreit neben ihrer rechten Hüfte, saß ein fast faustgroßer, pulsierender schwarzer Klumpen, wie eine beinlose glitzernde Spinne, ein widerliches Etwas ohne klar bestimmbare Form, das im gleichen, unheimlichen Rhythmus pulsierte wie die dünnen Nervenfäden, die von ihm ausgingen. In Skars Mund war plötzlich ein bitterer Geschmack. Übel schmeckender Speichel sammelte sich unter seiner Zunge, und er spürte selbst, wie sein Gesicht die Farbe verlor. Er mußte ein paarmal rasch hintereinander schlucken, um die Übelkeit zurückzudrängen. Dabei war es nicht einmal der Anblick selbst, der ihm so zusetzte; es war wie das Bild des schwarzen Netzes auf dem Gesicht der Errish - es war nicht sein Aussehen, es war das heftige Empfinden des auf fürchterliche Weise Fremden und Falschen, das davon ausging. Er wußte nicht, was dieses Netz war und was es bewirkte, aber er wußte mit unerschütterlicher Sicherheit, daß es etwas war, das nicht in diese Welt gehörte. Del stand mit einer abrupten Bewegung auf und trat zurück. »Was ist das, Skar?« fragte er leise. Seine Stimme zitterte, und das, was Skar darin hörte, war pures Entsetzen.
Auch Skar erhob sich und trat ein paar Schritte zur Seite, auf absurde Weise froh, aus der unmittelbaren Nähe der Toten und ihres schrecklichen Parasiten zu entkommen. Er sah nicht einmal mehr in ihre Richtung, als er antwortete. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Aber ich habe das Gefühl -«
»- es schon einmal gesehen zu haben?« Del lächelte, sehr rasch und ohne die geringste Spur von echtem Humor, als er Skars überraschten Blick bemerkte. Dann nickte er. »Mir geht es genauso«, fuhr er fort. »Aber ich weiß nicht, wann und wo.« Er schüttelte den Kopf, biß sich nachdenklich auf die Unterlippe und sah einen Moment lang auf die Tote herab. »Etwas stimmt hier nicht, Skar. Das sind Errish, aber ... irgend etwas macht mir Angst.«
Diesmal war Skar ehrlich überrascht. Er kannte Del seit mehr als zwanzig Jahren, aber er hatte ihn in all dieser Zeit kaum ein halbes Dutzend mal gestehen hören, daß er Angst empfand. Aber die Worte waren nicht nur so dahergesagt - Del hatte Angst, ebenso wie er und alle anderen hier. Etwas ging von diesem schwarzen Fädengespinst aus, das ihre Seelen in Aufruhr brachte. »Sind sie alle tot?« fragte er.