»Aber -«
»Verdammt, Skar, was glaubst du, wie viele Satai es noch gibt?« brüllte Del plötzlich. Sein Gesicht flammte vor Zorn und Schmerz. »Sie haben uns gejagt wie die Tiere! Sie haben uns abgeschlachtet, in den Jahren, in denen du fort warst. Sie haben Geldpreise auf unsere Köpfe gesetzt und uns für vogelfrei erklärt. Ich bin nicht aus Langeweile zu den Verbotenen Inseln gegangen, ich bin dorthin geflohen! Und ich war einer der letzten, dem es gelang«, fügte er etwas leiser hinzu.
Skar war erschüttert. In all den Wochen, die er jetzt zurück war, hatte Del nicht ein Wort von alledem erwähnt; weder er noch einer der anderen Satai oder Quorrl, mit denen er gesprochen hatte. Er versuchte sich vorzustellen, was Del ihm gerade erzählt hatte, aber es gelang ihm nicht.
»Wie viele?« fragte er mühsam. Seine Zunge war plötzlich trocken und weigerte sich fast, ihm zu gehorchen. Sein Herz hämmerte. »Wie viele von uns gibt es noch?«
»Ich weiß es nicht«, räumte Del düster ein. »Fünfzig, hundert, vielleicht auch nur noch dich und mich. Wir waren niemals viele, aber jetzt sind wir...« Er breitete in einer hilflosen Geste die Hände aus. »Nichts mehr. Diese Männer dort draußen, dieses riesige Heer, das in wenigen Tagen zu uns stoßen wird, und diejenigen, welche Denwar und Kohon besetzt halten - du hast recht. Sie sind keine Satai. Es sind ... Krieger. Söldner. Einfache Männer, die unserem Ruf folgten, und ja, verdammt noch mal, auch eine Menge Raufbolde und Gesindel, die der Verlockung nicht widerstehen konnten. Wir haben versucht, die Schlimmsten wegzuschicken, aber auch wir machen Fehler. Wir brauchten sie.«
»Aber warum?« fragte Skar erschüttert. »Warum den heiligen Mantel der Satai, Del?! Warum habt ihr sie nicht einfach genommen und ausgebildet und in irgendeine Uniform gesteckt, und -« Plötzlich schrie auch er. »Weißt du, was passieren wird, wenn das alles hier vorüber ist? Die Satai werden nie wieder das sein, was sie einmal waren! Die Menschen hassen sie schon jetzt, und die meisten haben Angst vor uns!«
»Ich weiß«, antwortete Del leise. »Wir werden sie fortschicken, wenn alles vorüber ist. Der Kontrakt läuft zehn Jahre, und -«
»Und danach werden sie ihre Mäntel ablegen und vergessen, daß sie einmal Satai waren, wie?« höhnte Skar. »Stell dich nicht dumm. Ihr habt die Satai vernichtet, und das weißt du!«
Del starrte ihn an, aber Skar suchte vergeblich nach Zorn oder Vorwurf in seinem Blick. »Vielleicht hast du recht«, meinte er, sehr leise und voller Trauer und Niedergeschlagenheit. »Aber wenn wir Enwor damit retten, dann war es das Opfer wert.«
»Das glaubst du doch selbst nicht«, antwortete Skar wutentbrannt. »Das sind doch nur leere Sprüche, Del. Der Unsinn, den du vielleicht den anderen erzählen kannst, aber nicht mir. Das hier ist...« Er hob die Hände, als versuche er nach den Worten zu greifen, die er nicht fand. »... nicht mehr Enwor«, stieß er schließlich hervor.
»Doch«, widersprach Del, sehr leise, sehr ernst und jetzt ohne die mindeste Spur von Zorn. »Du täuschst dich, Skar«, beschwor er ihn. »Diese Welt ist dieselbe geblieben. Du bist es, der sich verändert hat.«
»Habe ich das?«
Del nickte. In seinem Blick war etwas, das Skar nicht deuten konnte und das ihm Angst einjagte; nein - nicht Angst: eine sonderbare Mischung aus Trauer und Verzweiflung, das Gefühl, etwas verloren zu haben, von dem er bisher nicht einmal gewußt hatte, daß es da war.
»Wir waren einmal Freunde, Skar«, sagte Del. »Erinnerst du dich noch?«
»Sind wir das jetzt nicht mehr?«
Del antwortete nicht.
5.
Sie sprachen kein Wort mehr miteinander, bis die halbe Stunde abgelaufen war, die Del Bradburn gegeben hatte, um das Mädchen aufzuwecken, aber Skar widerstand auch der Versuchung, wie ein störrisches Kind einfach aus dem Raum zu laufen und sich irgendwo zu verkriechen, um sich selbst leid zu tun.
Er war sehr erleichtert, als sie den Thronsaal endlich verließen und in den Trakt der Festung gingen, den Bradburn und die anderen Heiler für sich reserviert hatten - erschreckend in seinen Ausmaßen, in dem erschreckend viele verwundete Männer und noch mehr verletzte Quorrl lagen. Skar war nur ein einziges Mal hier gewesen, gleich am ersten Tag, fast unmittelbar, nachdem die Burg gefallen war, und was er gesehen hatte, hatte ihn so bestürzt, daß er seither einen großen Bogen um diesen Teil der Anlage geschlagen hatte. Selbst ihn hatte die Schnelligkeit getäuscht, mit der Drasks gewaltiges Bollwerk gefallen war. Aber immerhin war es kein kleines Heer gewesen, das Del und er hierhergeführt hatten, sondern eine Walze aus vierzigtausend Quorrl und fünfhundert Satai-Kriegern, die die wenigen Verteidiger einfach durch ihre bloße Übermacht erstickt hatte. Den gewaltigen Blutzoll, den sie - und wieder einmal vor allem die Quorrl - dafür bezahlen mußten, hatte keiner von ihnen so richtig begriffen. Und er weigerte sich selbst jetzt noch, die Anzahl der Verwundeten und Sterbenden zu schätzen, an denen sie auf dem Weg zu Bradburns Quartier vorbeikamen.
Das Mädchen war wach, als sie die kleine Kammer an der Ostseite der Festung betraten. Neben seinem Lager standen Bradburn und einer seiner Gehilfen, ein kleiner, ausgemergelt wirkender Quorrl, dessen Finger aussahen, als hätten sie die Gicht, aber trotzdem sehr geschickt zu sein schienen. Bradburn sah auf, als sie eintraten, und für einen Moment war Skar sehr sicher, daß der Prediger (Prediger? dachte er. Bradburn tat in ihrem Heer alles nur Denkbare, aber er hatte ihn niemals irgend etwas predigen hören. Er mußte sich bei Gelegenheit eine andere Bezeichnung für ihn einfallen lassen.) spürte, was zwischen Del und ihm vorgefallen war; es hätte Skar jedenfalls in keiner Weise überrascht, wenn man ihm die Verbitterung ansah, die dieses letzte Gespräch mit Del in ihm zurückgelassen hatte. Aber Bradburn sagte kein Wort dazu, sondern beschied seinem schuppigen Gehilfen nur mit einer knappen Geste, den Raum zu verlassen, und wandte sich dann ebenfalls um.
»Überanstrengt sie nicht«, riet er ihnen im Gehen, und so leise, daß das Mädchen die Worte nicht verstehen konnte. »Sie ist völlig erschöpft. Und sehr verwirrt.«
Del nickte knapp und wartete, bis sie allein waren. Dann versuchte er, sein Gesicht zu so etwas wie einem Lächeln zu zwingen, und trat mit zwei raschen Schritten an das Lager heran. Skar folgte ihm, etwas langsamer und in einigem Abstand. Er erkannte das Mädchen kaum wieder. Bradburn hatte die Wunden verbunden und eine übelriechende, graue Salbe auf die Verbrennungen an Hals und Schulter aufgetragen, und jemand hatte ihm das Haar geschnitten, so daß es jetzt nur noch bis zu den Schultern reichte. Es sah jünger aus als am Morgen, als er es auf dem Rücken der Echse erblickt hatte, und sehr viel knabenhafter. Ein Kind.
Das Mädchen schaute einen Moment lang aufmerksam zu Del hoch - es schien sehr müde zu sein, aber sein Blick war klar und vollkommen wach -, drehte dann den Kopf und sah Skar an. »Bist du Skar?«
Skar nickte automatisch. Er war überrascht, und auch Del blickte verwirrt auf, trat dann aber wortlos zurück, damit Skar seinen Platz einnehmen konnte.
»Das bin ich«, bestätigte Skar, nachdem er es getan hatte. »Woher kennst du mich?«
»Ein Mann mit einer Narbe im Gesicht und brennenden Augen«, antwortete das Mädchen. »Die Beschreibung paßt.«
»Oh.« Skar hob ganz unbewußt die Hand und berührte die dünne weiße Linie, welche die linke Seite seines Gesichtes in zwei ungleichmäßige Hälften teilte. Er hatte diese Narbe schon so lange, daß er sie manchmal vergaß, obwohl sie es war, die ihm seinen Namen gegeben hatte. »Beschreibt man mich so?«
»Man nicht«, gab das Mädchen zur Antwort. »Meine Mutter. Sie hat mich hierhergeschickt. Zu dir. Ich bin Kiina.«