»Zum Teufel, was soll das heißen?« brauste Del auf. »Wer wollte uns hierherlocken, und warum? Und woher willst du das alles wissen?!« Skar machte eine warnende Handbewegung, aber Del ignorierte ihn einfach, trat mit einem wütenden Schritt auf Kiina zu und riß sie an der Schulter herum. Das Mädchen stieß einen erschrockenen kleinen Schrei aus und versuchte sich loszureißen, aber Dels Griff war viel zu fest. »Sprich endlich!«
»Laß sie los«, gebot Skar scharf.
Er hatte selbst nicht damit gerechnet, aber Del gehorchte tatsächlich - allerdings nur, um gleich darauf einen weiteren, drohenden Schritt auf Kiina zuzumachen und sie abermals anzufahren: »Also - was soll das bedeuten?«
Kiina warf Skar einen beistandheischenden Blick zu, aber er reagierte nicht. Er mißbilligte die Art, auf die Del mit ihr sprach, aber er verstand ihn. Für Kiina schien dies alles hier nichts als ein einziges großes Spiel zu sein, ein Spiel, bei dem der Einsatz durchaus ihr Leben sein konnte, aber trotzdem ein Spiel. Es wurde Zeit, daß ihr jemand klarmachte, was es wirklich war. »Es ... es ist so, wie ich gesagt habe«, antwortete sie, als sie begriff, daß Skar ihr nicht helfen würde. »Es ist eine Falle, für euch und das Heer. Sie wollen euch alle zusammen vernichten, und alle auf einmal.«
»Wer?« wollte Del erfahren. »Und wie?«
»Wie, weiß ich nicht«, erwiderte Kiina, jetzt nicht mehr aggressiv, sondern nur noch trotzig. »Und wer, weißt du so gut wie ich, Satai. Die Zauberpriester.«
»Drasks Brüder?« Del lachte abfällig. »Du bist verrückt, Kindchen. Sie haben es versucht, aber sie haben uns nicht einmal daran hindern können, ihnen ihre famose Burg wegzunehmen. Und wir waren kaum halb so viele, wie wir sein werden, wenn das Eis aufbricht und wir losmarschieren. Was sollten sie uns tun?«
»Dasselbe, was sie uns angetan haben, Satai«, antwortete Kiina leise, und ganz plötzlich, von einem Atemzug auf den anderen, fiel jede Kindlichkeit und jeder Trotz von ihr ab. Der Ernst, den Skar plötzlich in ihrer Stimme hörte, war nicht mehr gespielt. Er stand auf, trat an Dels Seite und legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm, ehe er wieder auffahren und Kiina vollends einschüchtern konnte. Er hatte Bradburns Worte nicht vergessen. Das Mädchen hatte eine womöglich wochenlange Flucht und endlose Leiden hinter sich. Wenn sie ihr zu sehr zusetzten, konnte es gut sein, daß sie einfach zusammenbrach und sie gar nichts mehr von ihr erfuhren.
»Was ist passiert?« fragte er.
Der Ausdruck von Schmerz auf Kiinas Gesicht wurde stärker. Ihre Mundwinkel zuckten, als hielte sie nur noch mit Mühe ihre Beherrschung aufrecht. Aber sie weinte nicht. »Dasselbe wie hier«, berichtete sie leise. »Die Zauberpriester. Sie ... sie kamen vor drei Jahren, kurz, nachdem meine Mutter gestorben war. Die Errish -« Skar fiel abermals auf, daß sie die Errish sagte, und nicht wir - »wußten, was in Ikne und den anderen Städten geschehen war, und sie waren vorbereitet. Sie haben sie erwartet und besiegt.«
»Einfach so?« fragte Del.
Kiina schüttelte zornig den Kopf. »Nicht einfach so«, antwortete sie trotzig. »Der Kampf dauerte lange, und sie waren sehr viele. Aber am Ende wurden sie geschlagen und vertrieben. Sie kamen wieder, und sie wurden wieder geschlagen.« Sie sprach nicht weiter, und abermals änderte sich etwas in ihrem Blick. Ihre Augen schienen eine Spur dunkler und größer zu werden, und obwohl sie Skar direkt anblickte, hatte er das sichere Gefühl, daß sie ihn in Wahrheit gar nicht sah. Was sie erzählte, das weckte die Erinnerungen, und mit ihnen kam der Schmerz.
»Und?« drängte er. »Was geschah weiter?«
»Das, was euch passieren wird, Skar«, antwortete Kiina. Ihre Stimme schwankte, und ihre Art zu sprechen wurde immer schleppender, als sie nach Worten für Dinge suchte, die mit Worten nicht zu beschreiben waren. »Die Errish und ihre Drachen haben sie geschlagen, wo immer sie auf sie stießen, aber es ... es war, als würden sie mit jeder Niederlage stärker. Zahllose von ihnen fanden den Tod, aber sie kamen immer wieder.« ...als würden sie mit jeder Niederlage stärker. Skar schauderte. War es wirklich Zufall, daß sich Kiinas Worte so sehr nach dem anhörten, was auch Drask bei ihrem letzten Gespräch gesagt hatte: Gib acht, daß ihr euch nicht totsiegt, Satai.
»Und dann?« fragte Del ungeduldig, als Kiina abermals in dumpfes Schweigen verfiel.
»Etwas ... geschah«, fuhr Kiina stockend fort. »Ich weiß nicht, was. Niemand wußte es. Die... die Angriffe hörten auf, aber plötzlich war alles anders geworden. Ein paar Errish verloren den Kontakt zu ihren Drachen. Andere... wurden von ihren eigenen Tieren angegriffen und getötet, und einige ... brachten sich gegenseitig um.«
Del runzelte ungläubig die Stirn, und auch Skar fiel es schwer, diesen Teil von Kiinas Bericht zu glauben. Errish, die sich gegenseitig töteten? Unvorstellbar!
So unvorstellbar wie Satai, die plündernd und brandschatzend durch das Land ziehen, nicht wahr? wisperte eine Stimme hinter seiner Stirn.
»Es war entsetzlich«, berichtete Kiina weiter. »Elay ist... nicht mehr das, was es einmal war. Haß und Mißtrauen waren alles, was die Errish noch füreinander empfanden. Es kam zu Kämpfen unter ihnen. Manche versuchten zu fliehen, aber die anderen hielten sie zurück oder töteten sie. Vor einem Jahr schließlich rief die neue Margoi alle Errish zurück zu einer großen Beratung nach Elay. Als sie vorüber war, da... da hatten sie sich verändert.«
»Verändert? Wie?«
Kiina sah Skar aus Augen an, die groß und dunkel vor Angst geworden waren. »Ihr habt sie gesehen, Skar. Diese... diese Frauen, die mich verfolgt haben. Das waren Errish. Das, was aus ihnen geworden ist, nach diesem entsetzlichen Tag.«
»Aber was ist geschehen?« fragte Del verwirrt. »Dieses... dieses Ding, das an ihnen haftet -«
»Der Wächter.«
»Nennen sie es so?« fragte Skar. »Dieses Netz?«
»Sie hatten es alle, nachdem sie Elay wieder verließen«, sagte Kiina. »Und nicht nur sie. Es war plötzlich da, und es ... breitete sich aus. Es wuchs, und es wächst noch immer. Niemand kann sich dagegen schützen.«
»Niemand?« Dels Augen verengten sich mißtrauisch. »Du schon. Und dein Drache auch, oder?«
»Nein«, antwortete Kiina. »Es wollte mich nicht.« Sie verzog die Lippen zu einem schmerzlichen Lächeln. »Ich war nicht wichtig genug. Es ist gigantisch, Satai. Es... es hat Elay überwuchert wie ein Geschwür und... und Tausende verschlungen. Aber nicht alle. Ich habe in der Burg gearbeitet, als Dienstmagd und in den Ställen, und später als Zofe der neuen Margoi. Ich habe vieles erfahren, und vieles gesehen. Nicht alle sind mit dem Netz verbunden. Nur die Mächtigen und die Krieger. Es tötet seine Träger, manche in Tagen, andere in Monaten oder Jahren, aber es tötet sie. Vielleicht frißt es sie innerlich auf - ich weiß es nicht. Aber es ist wählerisch. Es beherrscht uns, aber es braucht uns auch.«
»Das ist eine ziemlich phantastische Geschichte, findest du nicht?« äußerte Del zweifelnd. Er hob die Hand und machte eine herrische Bewegung, als Kiina auffahren wollte. »Ich habe dieses Ding gesehen, und ich glaube dir, aber... es fällt mir nicht leicht. Wieso hat niemand etwas davon erfahren, wenn das alles wirklich so passiert ist?«
»Ihr hattet genug damit zu tun, Krieg zu führen, oder?« fragte Kiina böse. »Und sie haben die Grenzen hermetisch abgeriegelt.«
»Das ist vollkommen unmöglich«, widersprach Del. »Niemand kann -«
»Niemand, aber etwas«, fiel ihm Kiina ins Wort. »Das Drachenland ist eine natürliche Festung, Satai. Es gibt nur ein halbes Dutzend Pässe über die Berge, die nicht schwer zu bewachen sind. Sie haben zahllose eurer Männer abgefangen und getötet, die versuchten, ins Land zu kommen. Ist einer davon zurückgekehrt?«