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Der Junge fuhr zusammen wie unter einem Hieb. Von einer Sekunde auf die andere war er nervös, als wäre sein Schweigen eine letzte Barriere gewesen, hinter der er sich verkrochen hatte, um nicht durch Skars bloßes Dasein zu verbrennen. »Er... er will Euch sprechen, Herr«, stotterte er.

»Del?«

»Der Hohe Satai?« Der Novize schüttelte den Kopf, aber erst nach einer Sekunde des Schweigens, fast als müsse er diesen Namen erst mit dem sieben Fuß großen Riesen in der schwarzgoldenen Robe des Kriegsherren der Satai verbinden. Skar rief sich in Erinnerung zurück, daß kaum jemand Dels Namen kannte.

»Nein«, fuhr der Junge schließlich fort. »Drask. Er... er verlangt nach Euch, Herr.«

»Drask?« Skar war überrascht, aber nur für einen Moment, und auch ein ganz kleines bißchen beunruhigt; ohne indes genau sagen zu können, warum. Es war nicht so, daß er die Begegnung mit dem Magier fürchtete. Im Gegenteil - früher oder später wäre er ohnehin zu ihm gegangen. Es überraschte ihn nur ein wenig, daß Drask von sich aus den Wunsch geäußert hatte, ihn zu sehen. Nach allem, was er ihm angetan hatte, mußte er damit rechnen, daß Skar ihn kurzerhand tötete, im gleichen Moment, in dem - Aber nein, verbesserte er sich in Gedanken. Jeder normale Mensch hätte damit gerechnet. Drask nicht. Er war nicht normal, wenn diese Einschätzung auch keineswegs im Sinne von geistesgestört oder gar verrückt zu bewerten war. Aber ein normaler Mensch war er ganz sicher nicht. Vielleicht war er nicht einmal ein Mensch.

Er nickte, trat aus dem Mantel aus schwarzem Rauch heraus und schlug auch den zweiten, wirklichen Mantel aus ebenfalls schwarzem Stoff zurück, der seine Schultern umgab. Der Blick des Novizen huschte mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Bewunderung über den schwarzen Zeremonienmantel, als er an ihm vorüberging.

Skar unterdrückte ein Lächeln. Er verstand den Jungen, wahrscheinlich viel besser, als dieser ahnte. Auch er war einmal so jung wie er gewesen, und auch er hatte einmal mit klopfendem Herzen und angehaltenem Atem dagestanden und den schwarzen Mantel eines Hohen Satai angestarrt; und auch er hatte sich nichts mehr gewünscht, als ihn eines Tages selbst zu tragen. Aber damals hatte er noch nicht gewußt, wie schwer er war. Er verscheuchte auch diesen Gedanken, eilte die gewundene Treppe hinunter und trat sechs Stockwerke tiefer auf den Hof der Festung hinaus.

Die Illusion, allein zu sein, zerplatzte wie eine Seifenblase, kaum daß er den ersten Schritt aus der Tür getan hatte. Für einen Augenblick wurde er zu einem Gleichen unter Gleichen, denn der Hof war voller Krieger, weit über hundert Männer, die fast alle die schwarzen Mäntel der Satai trugen, und darüber hinaus eine nicht einmal zu schätzende Anzahl schuppiger, großer Gestalten, von denen keine der anderen glich.

Wie immer, wenn Skar sich zwischen den Quorrl bewegte, überkam ihn ein sonderbares Gefühl der Unruhe, das er sich selber nicht ganz erklären konnte. Es war mehr, weit mehr als die instinktive Abneigung, welche die meisten Menschen beim Anblick der schuppigen Giganten aus dem Norden empfanden, mehr als die angeborene Scheu, einem denkenden Individuum gegenüberzustehen, das kein Mensch war, und doch sehr viel mehr als ein Tier. Mehr als die Verunsicherung, die jeden überfiel beim Anblick der flachen Fischgesichter, die unfähig waren, Gefühle und Empfindungen widerzuspiegeln. Was er spürte, während er mit raschen Schritten über den zum Heerlager umfunktionierten Hof eilte, wobei ihn die völlig willkürliche Art, in der das Lager der Quorrl-Krieger angelegt war, zu einem absurden Zickzack zwang, das war zu einem Gutteil Schuld, das dumpfe Wissen, in der Vergangenheit zahllose dieser Kreaturen getötet zu haben, ohne dabei mehr zu empfinden als... ja, als eigentlich gar nichts. Er hatte auch Menschen getötet, sehr viele Menschen, denn letztendlich war er ein Krieger, vielleicht der größte Krieger dieses Planeten überhaupt, und er hatte das Leben eines Kriegers geführt, aber das war etwas anderes gewesen. Was er spürte, was ihm sofort und unabwendbar das Gefühl des In-die-Enge-getrieben-seins gab, war nichts anderes als ein ganz profanes schlechtes Gewissen, obwohl ihm dieses Wort fast zu banal erschien, um seine Empfindungen wirklich auszudrücken. Er hatte Menschen getötet, und Quorrl, aber da war ein Unterschied gewesen. Er hatte die Quorrl stets als Tiere gesehen - o ja, als sehr kluge Tiere, Tiere, die sprachen, die aufrecht gingen und Werkzeuge und vor allem Waffen zu handhaben wußten, als verschlagene und sehr gefährliche Gegner, aber letztendlich doch als Tiere.

Aber das waren sie nicht.

Sie waren nicht einmal ihre Feinde.

Alles ist falsch, dachte er. Seit er im unterirdischen Tempel der Gesichtslosen Prediger aufgewacht war, hatte sich die Welt verändert, auf eine entsetzliche, angstmachende Weise. Aus Gut war Schlecht geworden, aus Freund Feind, aus Schlecht Gut und aus Feind Freund. Die alten Werte galten nicht mehr, und sie hatten vielleicht niemals wirklich gegolten. Aber er hatte erst sterben und nach fast einem Menschenleben wieder auferstehen müssen, um das zu begreifen. Möglicherweise war er es auch, der sich verändert hatte, viel tiefer, als er jetzt schon spürte.

Er verscheuchte auch diesen Gedanken - das, dachte er voller bitterem Spott, war etwas, was er wirklich gelernt hatte, in den letzten Wochen und Monaten: die Augen vor der Wahrheit zu verschließen und sie einfach wegzulügen -, gelangte auf der anderen Seite des Hofes wieder in die Festung und näherte sich Drasks Quartier.

Die beiden Satai, die vor der massiven Eisentür des fensterlosen Raumes Wache hielten, traten respektvoll beiseite, als sie ihn erkannten, und wieder spürte Skar einen raschen, schmerzhaften Stich in der Brust, als er ihre Blicke bemerkte. Es war nur Respekt, den er in den Augen der Männer las. Und Furcht. Furcht vor seinem schwarzen Mantel mit dem verschlungenen fünfzackigen Stern auf dem Rücken und dem rubingeschmückten Tschekal an seiner Seite. Auch diese Männer waren keine Satai mehr, dachte er, so wenig, wie der Novize, der ihn hier heruntergerufen hatte. Sie waren es nie geworden, und er würde es nie werden.

Skar betrat den Raum hinter der Eisentür und fand sich in einer sehr kleinen, von einer einzelnen Fackel nur düster erhellten Kammer wieder. Auch hier gab es Wächter - einen weiteren Satai, und bei ihm den größten und muskulösesten Quorrl, den er jemals gesehen hatte: ein Gigant von mehr als acht Fuß Höhe und einer Schulterbreite, die schlichtweg absurd erschien. Gemessen an der Art, in der Del Drask bewachen ließ, dachte Skar, mußte er noch immer gehörigen Respekt vor dem Magier haben. Er nickte dem Quorrl grüßend zu, wandte sich - noch immer, ohne ein Wort zu sagen - an den Satai und gab ihm mit einem Handzeichen zu verstehen, die Tür zu Drasks eigentlichem Verlies zu öffnen. Der Satai gehorchte, aber er tat es ohne irgendwelche Hast; seine Bewegungen waren von jener nachlässigen Selbstverständlichkeit, die den wirklichen Krieger verriet, kein dummer Junge, wie der Novize, und auch kein viel zu eilig ausgebildeter Raufbold, wie die beiden, die vor der Tür Wache standen. Ein absurdes Gefühl von Stolz überkam Skar, als er zusah, wie er einen großen Schlüssel von seinem Gürtel löste und damit nacheinander die drei Schlösser entriegelte, welche die Tür zu Drasks eigentlichem Gefängnis sicherten.