Skar schauderte. Es gehörte nicht viel Phantasie dazu, zu erraten, wen er vor sich hatte, und er hatte die Errish in den bizarren schwarzen Chitinpanzern ja schon gesehen, aber diese hier - sie stand noch dazu so, daß er sie gegen das Licht betrachtete und eigentlich nur einen harten schwarzen Umriß erkannte - sah wirklich wie ein riesiges zweibeiniges Insekt aus. Der Anblick hatte etwas Unwirkliches.
Skar schüttelte den Gedanken ab und zog sich ein winziges Stück weiter auf das Felsplateau hinauf, ohne die Errish und ihr schreckliches Reittier dabei auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Er war sich sicher, daß er einer der beiden Drachenreiterinnen gegenüberstand, die Kiina verfolgt hatten. Trotzdem wollte er sie nicht töten. Es war sehr viel wichtiger, sie lebend in die Hände zu bekommen; schon, um zu erfahren, warum sie überhaupt hier war.
Aber er bezweifelte, daß es ihm gelingen würde.
Lautlos schob er sich vollends auf das Plateau hinauf, stemmte sich unendlich vorsichtig in die Hocke hoch und tastete nach dem Tschekal. Die Daktyle und ihre Reiterin rührten sich noch immer nicht.
Sein eigenes Glück wurde ihm fast selbst unheimlich. Er hatte kein Geräusch verursacht, aber er war lange genug Krieger, um zu wissen, daß die Errish seine Nähe einfach spüren mußte; und wenn schon nicht sie, dann ihr riesiger Drachenvogel. Aber keiner der beiden regte sich auch nur.
Und dann - Es ging ganz schnell; lautlos; und der Schrecken, den er hätte empfinden sollen, kam nicht. In der einen Sekunde hatte die Errish noch reglos dagestanden und zu Drasks Burg hinaufgeblickt, dann drehte sie sich herum, und der Daij-Djan starrte ihn an. Die Sternenbestie, dieses kleine, böse, tötende Ding, das zu seinem Fluch geworden war. Es war wieder da, war - auch das begriff er voller Schrecken, aber ohne die mindeste Spur von Angst - vielleicht niemals weggewesen, sondern ihm immer gefolgt, auf Schritt und Tritt an seiner Seite gewesen wie ein mörderischer schwarzer Cherubim, und er glotzte ihn an, obwohl er keine Augen hatte, grinste höhnisch aus seinem flachen, völlig konturlosen Nicht-Gesicht zu ihm hoch und hob schließlich eine dürre Klauenhand, wie zu einem absurden Gruß.
Dann verschwand er, so lautlos und schnell wie ein Spuk. Aber Skar starrte noch lange auf die Stelle, an der er gestanden hatte.
Er war da! Das war alles, was er denken konnte. Er war da, er war immer dagewesen, und er spürte seine Nähe auch jetzt noch, wie einen unsichtbaren dräuenden Schatten.
Mühsam, unendlich mühsam, mit Bewegungen, die ihm selbst wie die eines alten schwachen Mannes vorkamen und trotzdem seine letzte Kraft erforderten, wandte er sich um und blickte die Daktyle an. Sie hockte noch immer reglos da, den Kopf ein wenig gesenkt und auf die Seite gelegt und die Augen halb geschlossen, aber sie schlief nicht. Sie war tot. So tot wie die in zerborstenes schwarzes Chitin gehüllte Gestalt, die reglos in dem schmalen Sattel auf ihrem Rücken hing.
Beide mußten schon lange tot sein, Stunden, vielleicht einen Tag. Der gewaltige Blutfleck unter dem Körper des Drachenvogels war eingetrocknet und so dunkel, daß er ihn erst bemerkte, als der glattgeschliffene Fels unter seinen Füßen plötzlich rau wurde, und in der entsetzlichen Wunde in der Kehle der Daktyle hatten sich schon Maden eingenistet. Skar war plötzlich froh, die Verletzungen der Errish nicht sehen zu können. Ihr Panzer war dunkel von eingetrocknetem Blut und zerschmettert, wie von einem gewaltigen Hammer getroffen. Aber Skar wußte auch so, wie es darunter aussah. Er kannte die fürchterlichen Wunden, die der Daij-Djan schlug.
Mehr um seine außer Rand und Band zu geratende Phantasie abzulenken, denn aus irgendeinem anderen Grund trat er näher an die Tote heran und zwang sich, sie genauer anzusehen. Ihre rechte Hand hielt noch immer den Scanner, den sie in ihrer allerletzten Sekunde gezogen haben mußte, und eine dünne, schnurgerade Brandspur auf dem Felsen neben ihr bewies, daß sie die Waffe auch benutzt hatte.
Aber auch ihre andere Hand war nicht leer. Sie umklammerte etwas Kleines, Glitzerndes.
Zögernd streckte Skar den Arm aus, zwang sich, seinen Widerwillen zu ignorieren, und löste ihre erstarrten Finger; eine Aufgabe, die seine ganze Kraft erforderte.
Darunter kam eine fingerlange Phiole aus klarem Glas zum Vorschein, in der wenige Tropfen einer wasserklaren Flüssigkeit glänzten. Ein dünnes Geflecht aus Kupfer umgab sie wie ein Netz, wohl, um sie vor dem Zerbrechen zu schützen, und der Verschluß sah sehr kompliziert aus und stellte wohl die feinste Metallarbeit dar, die Skar jemals gesehen hatte.
Sehr vorsichtig nahm er die Phiole aus den Fingern der Toten, wog sie einen Moment unschlüssig in der Hand und verbarg sie dann in einer Tasche seines Gürtels.
Einen Moment lang überlegte er, ob er die Tote mitnehmen sollte, um ihr ein ehrenhaftes Begräbnis zu geben, verwarf den Gedanken aber fast sofort wieder. Es war einfach unmöglich, einen mehr als zentnerschweren Körper durch dieses Labyrinth von Felsen und Schluchten zu tragen, und mit einem Male wollte er es auch gar nicht mehr. Plötzlich war er von keinem anderen Wunsch so erfüllt als dem, so schnell wie nur möglich von diesem entsetzlichen Ort zu verschwinden.
Trotzdem zögerte er noch einmal, nachdem er sich umgewandt hatte und wieder zum Rand des Felsens gegangen war. Sein Blick huschte über die nachtschwarzen Schatten unter ihm, und für die Dauer eines Lidschlages glaubte er noch einmal, die Sternenbestie zu sehen.
Natürlich war sie nicht wirklich da. Diesmal war es nur ein Schatten. Aber Skar spürte ihre Nähe.
»Wer bist du?« flüsterte er. »Komm heraus und zeige dich, du Ungeheuer! Was willst du von mir?!«
Aber die Stille schwieg. Nur das verzerrte Echo seiner eigenen, schrill gewordenen Stimme antwortete ihm. In Skars Ohren klang es wie ein höhnisches Gelächter.
Und vielleicht war es das auch.
7.
Er erzählte Del und Bradburn alles; alles mit Ausnahme seiner neuerlichen Begegnung mit dem Daij-Djan. Nicht einmal so sehr, weil ihn die bloße Erinnerung an die gesichtslose Sternenbestie mit nackter Angst erfüllte, sondern auch, weil er überzeugt war, daß sie für Del und Bradburn und all die anderen keinerlei Relevanz hatte. Was zwischen diesem Ding und ihm war, das ging nur sie beide etwas an. Er wußte noch nicht, was, und er wußte noch nicht, wann und wie, aber irgendwann - und es war nicht mehr sehr lange - würde er ihr endgültig gegenüberstehen und alles erfahren. In der Version, die er Del erzählte, war er auf einen Felsen hinaufgestiegen, um die nähere Umgebung überblicken zu können, und hatte dabei die tote Errish und ihren Drachenvogel entdeckt; eine Geschichte, die allemal glaubhaft genug klang. Vielleicht sogar überzeugender als die Wahrheit.
Er händigte Bradburn das kleine Glasröhrchen aus, der es sehr sorgfältig in ein Tuch einschlug und dann damit verschwand, um es zu untersuchen. Anschließend sprach er noch wenige Minuten mit Del. Aber es war wie die Male davor - sie spürten beide, daß ihre Unterhaltung wieder einmal auf einen Streit zusteuerte, obgleich sie sich beide alle Mühe gaben, sie auf rein sachliche Belange zu beschränken. Zwischen ihnen war eine Gereiztheit, die so konstant und unabhängig von Sprache und Verhalten war wie ihre frühere Freundschaft. Skar war sehr froh, als Del nach einer Weile erklärte, daß er noch das eine oder andere mit seinen Unterführern zu besprechen hatte, und ging.
Trotzdem wollte er nicht allein sein, denn Einsamkeit war etwas, das er plötzlich so wenig ertrug wie Dels Gegenwart. Nach einer Weile verließ er den Thronsaal und schlug den Weg zum Hof hinunter ein. Aber schon auf halber Strecke machte er kehrt, ging ein Stück zurück und suchte schließlich das Gemach auf, in dem Kiina untergebracht war. Er mochte das Mädchen - nicht so sehr, daß er sich direkt zu ihm hingezogen fühlte, aber doch genug, um seine Gesellschaft der eines fischgesichtigen Quorrl vorzuziehen, oder eines Halsabschneiders, der sich einbildete, Satai zu sein.