8.
Sie war natürlich nicht in ihrer Kammer. Skar hörte ihre Stimme durch die Tür hindurch, als er auf dem Weg nach oben an der Thronkammer vorbeikam. Er konnte die Worte nicht verstehen, aber das war auch nicht nötig - der Tonfall, in dem sie sprach, sagte ihm genug. Ohne zu zögern, öffnete er die Tür und trat ein, und Kiina verstummte erschrocken mitten im Wort. Ihre Augen schossen kleine Zornpfeile in seine Richtung, und sie verschränkte trotzig die Arme vor der Brust, während Skar auf sie und Del zuging. Sie trug noch immer die schwarzen Kniehosen und den schweren Brustpanzer.
»Hat sie sich über mich beschwert?« fragte Skar.
Del nickte. Er wirkte erleichtert, gleichzeitig aber auch ganz leise amüsiert.
»Das hat sie. Ich habe ihr klargemacht, daß du im Recht bist.« Kiina fuhr fast erschrocken herum und starrte ihn an, und Skar begriff, daß Del ihr dies vielleicht nicht unbedingt mit diesen Worten gesagt hatte. Er lächelte flüchtig.
»Ich war vielleicht etwas heftig zu dir«, räumte er ein. »Verzeih. Wir sind alle ein wenig gereizt hier. Aber du solltest diese Kleider nicht tragen, Kind.«
Kiinas Stirn umwölkte sich vor Zorn. »Ich bin kein Kind«, widersprach sie heftig. »Und diese Kleider waren das einzige, was ich gefunden habe, außer stinkenden Quorrl-Fetzen. Aber ich werde sie gerne dagegen eintauschen, wenn du Angst hast, daß ich sie entweihe.«
»Tu das«, sagte Skar gelassen. »Oder geh zu Bradburn und bitte ihn, dir saubere Kleider zu geben. Und wenn du schon einmal dort bist«, fügte er in unverändertem Tonfall hinzu, »dann könntest du ihn gleich fragen, ob er eine nutzbringende Beschäftigung für dich hat. Ich glaube, er kann zwei Hände mehr gut gebrauchen, unten bei den Kranken.«
Kiinas Gesicht verlor noch mehr Farbe. Einen Moment lang funkelte sie ihn mit purer Wut an, dann fuhr sie so ungestüm herum, daß sie fast das Gleichgewicht verloren hätte, und rannte aus dem Zimmer.
Del sah ihr kopfschüttelnd nach. Dann wandte er sich an Skar: »Warum bist du so hart zu ihr?«
»Bin ich das?« fragte Skar, gab Del aber keine Zeit zu antworten, sondern machte nur eine rasche, ärgerliche Handbewegung. »Ich habe keine Lust, über störrische Kinder zu sprechen«, fuhr er fort. »Hat Bradburn etwas herausgefunden?«
»Über die Flasche?« Del schüttelte überrascht den Kopf. »Wie könnte er. Es ist gerade eine Stunde her, daß du sie gebracht hast. Ich glaube, er hat Angst, sie zu öffnen.« Er zögerte einen Moment. »Aber ich habe nachgedacht, Skar«, sprach er dann weiter, in merklich verändertem Tonfall.
»So?«
Del nickte. »Mir geht dieses ...« Er suchte nach Worten und hob schließlich nur die Schultern. »... dieses Netz nicht aus dem Kopf, Skar. Dieses Ding, das die Errish und ihre Drachen beherrscht.«
»Du hast es schon einmal gesehen«, erinnerte ihn Skar.
Del blickte ihn überrascht an.
»Mir geht es ebenso«, sagte Skar erklärend. »Es ist nicht das erste Mal, daß ich so etwas sehe ... Aber ich weiß nicht mehr, wann und wo.«
Del ballte die rechte Hand zur Faust. »Wir müssen es herausfinden, Skar. Wenn wir jetzt auch noch die Errish gegen uns haben...« Er sprach absichtlich nicht weiter, sondern blickte Skar an, als erwarte er eine ganz bestimmte Reaktion von ihm, aber Skar zuckte nur mit den Schultern.
»Du hast gehört, was Kiina behauptet hat. Sie haben ihre Drachen verloren. Und es tötet seine Träger. Ich glaube nicht, daß wir Angst davor haben müssen, morgen früh aufzuwachen und eine Armee von kriegerischen Errish vor dem Tor zu sehen. Aber wie dürfen dieses Netz nicht unterschätzen. Du weißt, daß es Quorrl tötet?«
Del wirkte überrascht, aber es dauerte einen Moment, bis Skar begriff, daß es weniger Überraschung über seine Worte war, sondern darüber, daß er es wußte. »Wer hat dir das gesagt?« fragte er scharf.
»Niemand«, antwortete Skar. »Aber, um mit deinen eigenen Worten zu sprechen: Ich werde vielleicht langsam alt, aber noch nicht senil. Alle Quorrl, die heute morgen dabei waren, sind tot oder sterben.« Er lächelte humorlos. »Gibt es sonst noch etwas, was ich nicht weiß?«
Del tat so, als überhöre er den letzten Satz. »Es bedeutet noch lange nicht, daß es das Netz war«, antwortete er. »Vielleicht waren die Drachen krank, oder ihr Fleisch vergiftet.« Er lächelte dünn, als er Skars Überraschung bemerkte. »Die Quorrl haben den toten Drachen geschlachtet und das Fleisch gegessen«, sagte er. »Wußtest du das nicht?«
Nein, das hatte er nicht gewußt. Aber irgendwie spürte er, daß es nicht so einfach war. Und er sprach diesen Gedanken laut aus: »Nein«, entgegnete er. »So einfach ist es nicht. Du weißt, daß das nicht stimmt.«
Del seufzte, bedeckte für einen Moment das Gesicht mit beiden Händen und seufzte noch einmal. Er wirkte sehr müde. »Du hast ja recht«, gab er zu. »Aber was glaubst du, soll ich tun? Die Quorrl zurückschicken?« Er lachte ganz leise und bitter. »Sie sind das Rückgrat unseres Heeres, Skar. Ohne sie wären wir nie so weit gekommen. Männer wie Drask und seine Brüder würden Enwor heute beherrschen, ohne die Quorrl. Wir würden diesen Krieg verlieren, ohne sie.«
»Vielleicht sollten wir das auch«, murmelte Skar.
Del sah ihn verstört an, erwiderte aber zu Skars Überraschung nichts darauf, sondern goß sich schweigend einen Becher Wein ein. Skar schüttelte den Kopf, als Del den Becher fragend in seine Richtung schwenkte.
Eine sonderbar unbehagliche Ruhe begann sich zwischen ihnen auszubreiten. Es hätte so viel zu bereden gegeben, so viele tausend Dinge, über die sie sprechen mußten, aber Del schien ebenso wie er zu spüren, wie sinnlos es gewesen wäre. Zwischen ihnen stand etwas, das tiefer war als die Kluft, die zwanzig verlorene Jahre aufgerissen hatten, und das mit Worten nicht zu überwinden war.
Del trank schweigend und sehr langsam und blickte ihn dabei über den Rand seines Bechers hinweg unentwegt an, und nach einer Weile trat Skar an ihm vorbei ans Fenster und sah auf den Innenhof herab, nicht weil ihn irgend etwas von dem interessierte, was es dort unten zu sehen gegeben hätte, sondern einzig, um Dels Blick auszuweichen.
»Was denkst du?« fragte Del nach einer Weile.
Skar antwortete nicht gleich, aber er lächelte, ohne daß Del es sehen konnte. Für einen ganz kurzen Moment glaubte er ein Echo der alten Wärme und Freundschaft zu fühlen, die sie einmal verbunden hatte. Aber er war nicht sicher, ob es wirklich da war oder ob er es nur fühlte, weil er es spüren wollte.
»Ich denke über Kiina nach«, antwortete er schließlich. »Sie meint, diese Burg sei eine Falle, eigens für uns aufgebaut.«
»Und?«
»Ich frage mich, ob sie vielleicht schon zugeschnappt ist«, antwortete Skar. Er blickte auf den Hof hinab, einen Hof, der voller Männer und Quorrl und vor allem Waffen war, und für den tausendsten Teil einer Sekunde glaubte er, einen schlanken, schwarzen Schatten aus glitzerndem Chitin zu sehen, der zwischen den Zelten stand und ihm spöttisch zuwinkte, er begriff im selben Augenblick, daß Del nicht verstehen würde, was er meinte.
Vielleicht war es das erste Mal, daß er sich wirklich in Del täuschte. »Möglicherweise ist sie es schon seit Jahren«, sagte er. Skar hörte, wie er seinen Becher abstellte und näherkam. »Vielleicht hätten wir diesen Krieg niemals führen dürfen.« Der schwarzhaarige Riese trat leise neben ihn, stützte beide Hände auf den Fenstersims und deutete auf das bunte Durcheinander auf dem Hof hinab. »Sie werden über Enwor herfallen wie ein Heuschreckenschwarm, wenn alles vorbei ist«, fuhr er fort. »Und ich weiß nicht einmal, ob wir sie aufhalten können.« Er schüttelte den Kopf, legte Skar die Hand auf die Schulter und zwang ihn mit sanfter Gewalt, sich herumzudrehen. Es war eine jener beiläufigen, vertrauten Gesten, wie sie vor einem Menschenalter zwischen ihnen üblich gewesen waren, und für einen Moment stand er nun wirklich dem alten Del gegenüber. Mit aller Macht mußte er gegen das Bedürfnis ankämpfen, Del einfach in die Arme zu schließen und an sich zu pressen. Hinterher fragte er sich vergeblich, warum er es nicht getan hatte.