Skar blickte verwirrt zum Fenster, machte einen Schritt und blieb wieder stehen. »Aber ich dachte -«
»Das ist dein Problem, Skar«, unterbrach ihn Del höhnisch. »Du denkst. Du denkst zuviel und im falschen Moment.« Er packte ihn grob bei der Schulter, daß Skar schmerzhaft das Gesicht verzog. »Tu mir selbst und dir einen Gefallen, Skar«, forderte er. »Frage mich demnächst um Rat, bevor du denkst.« Die Worte taten ihm im gleichen Moment schon wieder leid. Skar sah, wie er erschrak, und spürte, wie er betreten die Hand von seiner Schulter zog und zur Faust ballte. »Verzeih«, murmelte er. »Das wollte ich nicht sagen.«
»Doch«, behauptete Skar. »Das wolltest du. Und vielleicht hast du sogar recht. Es tut mir leid.« Er seufzte, aber dann, fast im selben Moment schon, machte sich Trotz in ihm breit.
»Warum hast du es mir nie gesagt?«
»Was? Das mit Titch?« Del zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Aus Dummheit, schätze ich. Vielleicht habe ich einfach angenommen, du wüßtest es. Bradburn will uns sehen«, fügte er unvermittelt hinzu. »Das ist auch der Grund, aus dem ich gekommen bin.« Abrupt wandte er sich zur Tür, stieß sie auf und wartete ungeduldig, daß Skar ihm folgte. Aber er ging schnell weiter, und er hielt auch ein winziges bißchen mehr Abstand, als nötig gewesen wäre. Gerade genug, um Skar begreifen zu lassen, daß er nicht mit ihm reden wollte.
Sie mußten den Hof überqueren, um zu den Räumen zu gelangen, die Bradburn für sich beanspruchte. Er war noch immer leer. Von den gut zweihundert Quorrl, die Titch eskortiert hatten, war keine Spur mehr zu sehen, und auch die Toten waren bereits weggeschafft worden. Trotzdem ertappte sich Skar dabei, fast krampfhaft überallhin zu blicken, nur nicht in die Richtung, in der die Exekution stattgefunden hatte. Sonderbar, dachte er. Er war doch früher nie so zart besaitet gewesen. Aber früher war ihm vielleicht auch noch nie alles so sinnlos vorgekommen. Er war Krieger, vom Tage seiner Geburt an, ein Mann, der das Töten kannte und selbst getötet hatte, so viele, daß er schon vor einem Menschenalter damit aufgehört hatte, sie zu zählen. Aber er hatte es nie genossen.
Sie betraten die Festung auf der anderen Seite des Hofes wieder, und Del führte ihn durch ein wahres Labyrinth von Treppenschächten und Gängen tiefer in den Berg hinein. Eine sonderbare, fast unangenehme Stille nahm sie auf, während sie gebückt durch die niedrigen Gänge eilten und Treppen hinuntergingen, deren Stufen gerade eine Winzigkeit zu niedrig ausgelegt waren, um sie wirklich bequem überwinden zu können. Bradburns Kammer lag tief im gewachsenen Fels, der das Fundament der Burg bildete; so tief, daß man meinte, das Gewicht der Tonnen um Tonnen von Gestein spüren zu können, die auf die Decke herabdrückten. Vielleicht erinnerte es ihn an seine Heimat, den unterirdischen Tempel in den Bergen, in dem er den größten Teil seines Lebens verbracht hatte. Wieder - und nicht zum ersten Mal erschien ihm dieser Gedanke wichtig, ohne daß er sagen konnte, warum - kam ihm die ungeheuerliche Größe von Drasks Trutzburg zu Bewußtsein. Obgleich der allergrößte Teil von Titchs Quorrl-Armee auf der Ebene vor der Festung lagerte, mußten sich mehr als zweitausend Personen in der Festung aufhalten. Aber das änderte nichts daran, daß man stundenlang durch ihre fensterlosen Stollen und Tunnel gehen konnte, ohne auch nur auf ein einziges lebendes Wesen zu treffen. Er fragte sich, wie Drask es geschafft hatte, diese zyklopische Burg in nur zwei Jahren aus dem Berg zu schneiden.
Er verscheuchte auch diesen Gedanken und konzentrierte sich darauf, mit Del Schritt zu halten. Nur ein weiteres Rätsel, das er vermutlich niemals lösen würde. Es war auch nicht wichtig. Bradburn war nicht allein, und das Licht in seiner Kammer war so schwach, daß Skar im ersten Moment Mühe hatte, mehr als Schatten und verschwommene Umrisse zu erkennen. Immerhin sah er, daß Bradburn nicht allein war und daß seine Kammer eher dem Laboratorium eines Alchimisten glich als der Zelle eines Predigers. Sie war sehr groß, wirkte aber winzig, denn sie war vollgestopft mit Tischen und Truhen, und an den Wänden standen deckenhohe Regale voller säuberlich geordneter Schriftrollen und alter, ledergebundener Bücher. Skar fragte sich, wie um alles in der Welt Bradburn bei dieser Beleuchtung eine Schrift lesen wollte, die aus weniger als handgroßen Buchstaben bestand. Der Prediger beantwortete die unausgesprochene Frage schon im nächsten Moment, indem er nämlich einen glühenden Span an den Docht einer fremdartig geformten Öllampe hielt, welche die Kammer mit erstaunlich intensiver Helligkeit erfüllte. Fast gleichzeitig machte er eine Handbewegung zu der Person, mit der er bei seinem und Dels Eintreten geredet hatte, und schickte sie damit fort. Skar, durch das plötzliche, ungewohnte Licht geblendet, erkannte sie erst, als sie an ihm vorüberging und eine Strähne ihres langen blonden Haares seinen Arm streifte. Verwirrt sah er Kiina nach. Aber er beherrschte sich im letzten Moment, sie anzufahren, was sie hier unten zu suchen hatte. Es ging ihn nichts an.
Stattdessen wandte er sich an Bradburn und versuchte wenigstens, sich zu so etwas wie einem Lächeln zu zwingen. Der Prediger erwiderte die Miene nicht, aber in seinen Augen war wie stets etwas von der alten Freundlichkeit und Güte. Vielleicht sah Skar sie auch nur, weil er sie sehen wollte. Außer Del war Bradburn der einzige Mensch, den er noch aus der alten Welt kannte; eines von zwei Verbindungsgliedern zwischen den beiden Leben, die er gelebt hatte.
»Du wolltest uns sprechen«, unterbrach Del das unbehaglich werdende Schweigen.
»Ja.« Bradburn nickte, kam mit kleinen, fast trippelnden Schritten näher und suchte etwas aus dem Durcheinander auf seinem Tisch heraus, das Skar erst nach einigen Augenblicken als die kleine Phiole wiedererkannte, die er der toten Errish abgenommen hatte. Einen Moment lang wog er sie in der Hand, als wisse er nicht genau, was er damit anfangen sollte, dann stellte er sie behutsam wieder zurück und deutete mit einer Kopfbewegung darauf.
»Ich habe die letzten Stunden darauf verwandt herauszufinden, was diese Flasche enthält«, begann er umständlich.
»Und?« Del beugte sich vor und nahm das kleine Glasgefäß seinerseits auf. In seinen gewaltigen Pranken wirkte es noch zerbrechlicher, als es ohnehin war. »Was ist drin? Ein Liebestrank der Margoi?«
Es sollte ein Scherz sein, aber Bradburn blieb ernst. »Nein«, antwortete er ungerührt. »Es ist Gift. Ich weiß nicht, welcher Art, und ich weiß nicht, wo es herkommt oder wie es genau wirkt. Aber es ist Gift.«
Del sah ihn ohne große Überraschung an. »Gift?«
»Die tödlichste Mixtur, die mir je untergekommen ist«, bestätigte Bradburn.
Del fuhr erschrocken zusammen und beeilte sich, die kleine, in Kupfer eingesponnene Flasche vorsichtig wieder auf den Tisch zurückzustellen, von dem er sie genommen hatte. Er sagte kein Wort, sondern schien darauf zu warten, daß der Gesichtslose Prediger weitersprach, und auch Skar zog es vor, zu dem Gehörten zuerst einmal zu schweigen und sich im übrigen über Dels plötzlich schreckensbleiches Gesicht zu amüsieren.
Er war nicht besonders überrascht; er wäre ganz im Gegenteil eher verwirrt gewesen, hätte die kleine Phiole irgend etwas anderes enthalten. Er verstand es nur nicht mehr. Er begriff einfach nicht, warum der Daij-Djan die Errish und ihren Drachenvogel getötet und sie somit vielleicht alle gerettet hatte.
»Wie tödlich?« fragte Del nach einer Weile.
Bradburn zuckte mit den Achseln. »Tödlich genug für uns«, sagte er. »Es gibt Quellen dort unten bei den Felsen. Soviel ich weiß, bezieht die Burg ihr Trinkwasser dorther.« Er wandte sich mit einem fragenden Blick an Skar. »Glaubst du, daß du die Stelle wiederfindest, an der du die Errish entdeckt hast?« Skar nickte. »Sicher.«