Er hätte seine Bitte gar nicht zu wiederholen brauchen. Kiinas Zorn war so schnell verflogen, wie er gekommen war; sie schien nicht einmal mehr verärgert, sondern sah ihn nur noch mit einer Art vorsichtigem Interesse an - auf genau die Art, dachte Skar, auf die man ein Tier betrachten mochte, von dem man wußte, daß es gefährlich war, aber nicht angreifen würde, solange man es nicht provozierte.
»Es tut mir leid, daß ich so grob zu dir war«, entschuldigte er sich. »Heute nachmittag, meine ich.«
»Hehe«, entgegnete Kiina. »Ich bin es, die um Verzeihung bitten wollte. Verdirb mir doch nicht den ganzen Spaß, Satai.« Skar blickte irritiert auf sie hinab, aber dann gewahrte er das spöttische Glitzern in ihren Augen, und plötzlich lachten sie beide. Aber Kiina wurde sehr rasch wieder ernst.
»Ich habe mit dem Hohen Satai gesprochen«, fuhr sie fort. »Und mit Bradburn. Ich ... habe mich ziemlich dumm benommen, glaube ich. Aber ich wußte nicht, daß den Satai ihre Kleider heilig sind.«
»Nicht ihre Kleider«, antwortete Skar. »Das, was sie symbolisieren.« Er machte eine bewußt übertrieben wegwerfende Handbewegung. »Aber du hast recht - du wußtest es nicht. Ich hätte es berücksichtigen müssen. Es tut mir leid.«
»Ja«, antwortete Kiina. »Und wenn wir damit fertig sind, uns unentwegt beieinander zu entschuldigen, dann können wir vielleicht damit anfangen, miteinander zu reden.«
Skar blieb ernst, obwohl Kiinas Blick ihn zu einem neuerlichen Lachen herausforderte. »Ich kenne die Frage, die du mir stellen willst«, sagte er leise. »Und du die Antwort. Wir können nicht nach Elay gehen. Weder dieses Heer noch du und ich.«
Kiina schwieg eine Weile. Sie hatte sich gut in der Gewalt, stellte Skar anerkennend fest; gut genug, um zu verheimlichen, wie weh ihr seine Worte taten. Dabei mußte sie die Antwort so wie er gekannt haben, noch bevor sie hierher kam.
Aus einem plötzlichen Gefühl von Mitleid heraus trat Skar auf sie zu und legte ihr die Hand auf die Schulter, aber etwas Seltsames geschah. Skar hatte sie kaum berührt, als ihn Erinnerungen und Gefühle von selten gekannter Stärke überfluteten: Er spürte eine sonderbare, gleichzeitig unangenehme wie wohltuende Wärme, das viel, viel zu lange vermißte Empfinden, einem Menschen gegenüberzustehen, der nicht sein Feind war und der nichts weiter wollte als er selbst, nämlich ein wenig Verständnis und Freundschaft, aber zugleich glaubte er sich auch zurückversetzt in eine andere Zeit, aber denselben Ort. Es war mehr als nur ein Gefühl, viel mehr als bloße Erinnerung, sondern ein Empfinden von der Kraft und Eindringlichkeit einer Vision: Er hatte schon einmal in dieser Burg gestanden und ein Mädchen in den Armen gehalten, das dasselbe gewollt hatte wie Kiina. Es war ein anderes Zimmer gewesen, eine andere Zeit, und es geschah unter anderen Voraussetzungen, aber wenige Sekunden, nachdem er sie berührt hatte, war sie in seinen Armen gestorben, und er hatte sich nie so klar an das fassungslose Entsetzen jenes Augenblickes erinnert wie jetzt. Obwohl er mit aller Macht dagegen anzukämpfen versuchte, stieß er Kiina so grob von sich, daß sie das Gleichgewicht verlor und sich am Tisch festhalten mußte, um nicht zu stürzen. Skar griff blitzschnell zu und fing sie auf, zog die Hand aber sofort wieder zurück.
Kiina starrte ihn fassungslos an. »Was -?«
»Verzeih«, sagte er hastig. »Das... das wollte ich nicht.«
»Warum hast du es dann getan?« fragte Kiina verstört.
Es war eine Frage, wie sie wohl nur ein Kind stellen konnte, und vielleicht traf sie ihn deshalb so sehr. Er suchte einen Moment vergeblich nach einer Antwort, zuckte schließlich fast hilflos mit den Schultern und sah weg. »Es galt nicht dir«, versicherte er. »Es tut mir leid. Ich bin nervös.«
Kiina legte den Kopf auf die Seite und blickte ihn sehr nachdenklich an. »Hast du Angst vor dem Quorrl?« fragte sie. Skar war überrascht. Es dauerte Sekunden, bis er überhaupt begriff, was sie meinte. »Titch?«
»So heißt er wohl, ja«, erwiderte Kiina. »Du hattest Streit mit ihm. Ich... habe gesehen, was passiert ist.«
»Wer hat das eigentlich nicht?« murmelte Skar. Lauter und als Antwort fügte er hinzu: »Es sah schlimmer aus, als es war. Titch ist ein Quorrl. Man kann einen Quorrl nicht beleidigen.«
»Bist du sicher?«
»Vollkommen«, antwortete Skar, und er meinte seine Worte in diesem Augenblick wirklich so, wie er sie sagte. »Ein Quorrl bringt dich entweder sofort um oder gar nicht. Es ist nicht Titch. Ich ... bin nervös, das ist alles.«
»Das scheinen hier alle zu sein«, seufzte Kiina. »Diese Burg macht mir Angst, Skar. Sie ist böse.«
Skar lächelte verständnisvoll. Kiina war ein Kind, das Kind einer Errish dazu, deren Lebensinhalt das Lindern und Heilen war, so wie der der Satai der Kampf. Was anderes als Furcht und Unbehagen sollte sie empfinden, an einem Ort wie diesem? »Erzähl mir von deiner Mutter«, bat er - nicht nur deshalb, um sie auf andere Gedanken zu bringen, wie er sich selbst einzureden versuchte.
»Von ... meiner Mutter?« Für einen Moment war auch Kiina über sein Anliegen überrascht, und für einen noch kürzeren Augenblick - vielleicht lag es am Licht, vielleicht am Blickwinkel, vielleicht war es auch nur da, weil er es sehen wollte - schien sie ihrer Mutter zu gleichen wie eine zwanzig Jahre jüngere Zwillingsschwester: das gleiche sanfte und doch energische Gesicht, die gleichen verwundbaren Augen, die verletzend und spöttisch, aber auch liebenswert und hilflos zugleich blicken konnten, derselbe, energische Mund... selbst die furchtbare Zweiteilung ihres Gesichtes war da, wenn es bei Kiina auch nur das Haar war, welches das Höllenfeuer des Scanners verbrannt hatte, und nicht Gowennas Gesicht, vom Atem des Drachen berührt.
Dann war der Moment vorüber, Kiina bewegte sich und wurde wieder zu dem, was sie war, und Skar schalt sich in Gedanken einen romantischen Narren, der sich wohl immer noch weigerte zu begreifen, daß es die Welt, nach der er sich zurücksehnte, nicht mehr gab.
»Aber warum?« fragte sie.
Skar lächelte. »Bist du nicht hergekommen, um mit mir zu reden?«
»Doch«, antwortete Kiina. »Aber es gibt... Wichtigeres.«
»Zum Beispiel?«
Kiina hob vage ihre Hände. »Der Krieg. Die Lage in Elay. Die Pläne der Sternengeborenen...«
»Ich bin sicher, nach all diesen Dingen haben dich Del und Bradburn schon zur Genüge befragt«, antwortete Skar. »Sie hätten es mir gesagt, wären wirklich wichtige Neuigkeiten dabei.« Kiina blickte ihn halb verwirrt, halb aber auch zornig an. »Ist die Vernichtung eures Heeres nicht wichtig genug?« fragte sie irritiert.
Skar machte eine wegwerfende Handbewegung. »Sie zu beschließen und dann auszuführen sind zwei verschiedene Dinge, weißt du?« Er ließ sich auf die Kante seines Bettes sinken, verschränkte die Hände hinter dem Nacken und deutete mit dem Fuß auf einen freien Stuhl. Kiina setzte sich gehorsam, wurde aber unter seinem Blick immer nervöser.
»Erzähl mir von ihr«, wiederholte Skar noch einmal seine Bitte.
»Da gibt es nicht viel zu erzählen«, antwortete Kiina zögernd. Das war halb die Wahrheit, halb aber auch nicht, wie Skar ganz genau spürte. Plötzlich war er es, der irritiert war. »Ich habe sie kaum gekannt, weißt du?« fügte sie mit einem fast entschuldigenden Lächeln hinzu.
»Du bist nicht von ihr erzogen worden«, vermutete Skar - natürlich: Gowenna war die Margoi der Ehrwürdigen Frauen gewesen, Königin, Mutter und - fast - Göttin in einer Person. Aber Kiina schüttelte den Kopf.
»Doch«, sagte sie. »Ich habe bei ihr gelebt, wenn du das meinst, und sie hat alle Zeit mit mir verbracht, die sie erübrigen konnte. Später habe ich erfahren, daß ihre Beraterinnen immer darauf gedrängt haben, mich fortzuschicken - nach Ikne oder Denwar, oder auch zum Berg der Götter, um mich von den Hohen Satai unterrichten zu lassen.«