Skar sah sie zweifelnd an. Kiina hatte keinen Grund zu lügen - aber eine Frau auf den Verbotenen Inseln? Das war unvorstellbar.
Er sprach seine Zweifel laut aus, und Kiina nickte zustimmend. »Ich weiß. Aber es gab den Plan, die Satai und die Errish zu vereinen. Nicht für lange Zeit, und auch nicht sehr ernsthaft, aber er wurde erwogen. Du weißt nichts davon?«
Skar schüttelte den Kopf. Es gab eine Menge Dinge, von denen er nichts wußte. »Deine Mutter bestand also darauf, daß du bei ihr bleibst«, nahm er den Faden auf, um an ihre unterbrochene Erzählung anzuknüpfen.
Kiina nickte. »Ja. Ich... sie hat sich um mich gekümmert, wenn du das meinst. Sie hat alles getan, mir eine gute Mutter zu sein.« Sie starrte an ihm vorbei gegen die Wand, und etwas Neues, sehr Sonderbares trat in ihren Blick - ein Ausdruck irgendwo zwischen Trauer, Schmerz und verstehendem Vergeben, den Skar nicht genau einordnen konnte. Er war verwirrt, denn was er in Kiinas Augen zu lesen glaubte, das paßte nicht zu einem Kind von sechzehn oder siebzehn Jahren.
»Sie hat es versucht«, fuhr sie nach einer sehr langen Pause fort. »Aber Mutter und Göttin zugleich kann wohl niemand sein. Aber sie hat oft von dir gesprochen.« Sie sah ihn an, als erwarte sie eine ganz bestimmte Reaktion von ihm, und Skar tat ihr den Gefallen, fragend die Brauen zusammenzuziehen.
»Sie muß dich sehr geliebt haben«, erinnerte sich Kiina. »Sie hat es nie zugegeben, aber ich habe es gespürt, mit jedem Wort, das ich hörte. Ich glaube, du warst der einzige Mann, den sie je geliebt hat. Sie war nicht sehr glücklich.« Kiina seufzte, fuhr sich mit beiden Händen durch das Gesicht und begann, die Scherben des zerbrochenen Kruges aufzuheben, während sie weitersprach. »Niemand, der das Amt der Margoi innehat, ist glücklich, Skar. Wußtest du das? Ich glaube, es ist die Verantwortung und all dieses Wissen, das sie auffrißt, innerlich. Wirklich glücklich war sie nur, wenn sie von dir gesprochen hat - und von den Abenteuern, die ihr zusammen erlebt habt.« Sie sah ihn an, und plötzlich war sie wieder ganz begeistertes Kind. Ihre Augen begannen zu leuchten. »Du mußt mir davon erzählen. Von eurem Kampf gegen Vela und den Dronte, und von eurer Reise über die Ebenen von Tuan.«
Skar lächelte. »Ich habe den Eindruck, daß du bereits alles weißt, was es darüber zu wissen gibt«, wich er aus.
»Sie hat mir alles erzählt, ja«, bestätigte Kiina aufgeregt. »Hundertmal. Wir haben ganze Nächte zusammengesessen, und ich habe ihren Worten gelauscht. Aber das war etwas anderes. Ich möchte es von dir hören. Mit deinen Worten.«
»Und du denkst, sie sind anders?«
»Du bist anders«, stellte Kiina richtig. »Anders, als ich dich mir vorgestellt habe.«
»So?« fragte Skar belustigt. »Wie hast du mich dir denn vorgestellt?«
»Älter«, antwortete Kiina. »Ruhiger.« Sie lächelte, plötzlich verlegen. »Oder eigentlich nicht. Wenn... wenn meine Mutter von dir erzählt hat, dann habe ich dich manchmal vor mir gesehen, weißt du? Ganz genau so, wie du bist. Aber das ist über zwanzig Jahre her. Du mußt sehr jung gewesen sein, damals. Nicht viel älter, als ich heute bin.«
Skar schwieg ein paar Augenblicke. Kiina wußte nichts von seinem zwanzig Jahre dauernden Schlaf, so, wie die allerwenigsten wirklich davon Kenntnis hatten. Es gab Gerüchte, Vermutungen und wahrscheinlich bereits die haarsträubendsten Geschichten, aber für die allermeisten Menschen war er irgendwann vor zwanzig Jahren einfach verschwunden und vor wenigen Wochen wieder aufgetaucht. Del und er waren übereingekommen, es auch vorerst dabei zu belassen.
»Ich bin sehr viel älter, als du glaubst«, versicherte er ausweichend. »Ich habe mich gut gehalten, das ist alles.«
Kiinas Gesichtsausdruck machte deutlich, wie wenig sie sich mit dieser Antwort zufrieden gab, und Skar fuhr rasch fort: »Ein alter Satai-Trick. Du wärst erstaunt, wenn du wüßtest, wie einfach er ist. Aber ich werde ihn dir nicht verraten.«
Kiina lächelte pflichtschuldig, aber Skar gab ihr auch jetzt noch keine Gelegenheit, eine Frage zu stellen. »Wer war dein Vater?« erkundigte er sich.
Kiina zuckte mit den Achseln. »Ein Krieger«, antwortete sie. »Ein Satai, wie du - glaube ich. Ich habe ihn nie kennengelernt. Er wurde eines Tages nach Elay gebracht, mehr tot als lebendig, und meine Mutter und einige andere Errish pflegten ihn, bis er wieder gesund war.«
»Und in dieser Zeit hat er dich gezeugt?« fragte Skar zweifelnd. Kiina zuckte abermals mit den Schultern. »Warum nicht? Auch Errish sind normale Frauen mit normalen Bedürfnissen, oder? Niemand verpflichtet sie zur Keuschheit. Habt ihr Satai ein entsprechendes Gelübde abgelegt?«
Skar lachte. »Nein. Aber Satai bekommen äußerst selten Kinder, weißt du?«
»So wie Errish«, bestätigte Kiina. »Die meisten von ihnen sind steril, durch den dauernden Umgang mit Drogen und den häufigen Kontakt mit ihren Drachen. Aber nicht alle. Etwas ist... nicht richtig gewesen. Die Droge, die Errish normalerweise nehmen, um nicht schwanger zu werden, hat versagt - vielleicht hat meine Mutter auch vergessen, sie zu nehmen.« Sie lächelte schwach. »Das ist die offizielle Version. Aber ich glaube, daß sie mich wollte.«
»Hat sie dir das erzählt?«
»Nein. Aber als klar wurde, daß sie ein Kind erwartete, hat sie die Schwangerschaft nicht abgebrochen, wie es üblich gewesen wäre. Ich glaube, sie war die erste Margoi in der Geschichte Elays, die ein Kind bekam.«
Ihre Worte machten Skar betroffen, und plötzlich - so absurd es war -, bedauerte er nichts so sehr wie die Tatsache, daß nicht doch er ihr Vater war. Er begriff aus dem Wenigen, was er gehört hatte, daß Gowenna dieses Kind im Grunde seinetwegen bekommen hatte, und plötzlich war er auch sehr sicher, daß nicht einmal die Person ihres Vaters zufällig gewählt gewesen war. Der Mann mußte ihm sehr ähnlich gewesen sein.
»Aber jetzt bist du dran!« forderte Kiina aufgeregt. »Erzähl mir von euren Abenteuern, Skar. Erzähl mir von eurer Flucht vor dem Dronte, und wie ihr ihn schließlich doch besiegt habt.« Skar warf einen Blick aus dem Fenster. Die Nacht war vollends hereingebrochen, aber es war noch zu früh, und er wußte, daß er trotz seiner Erschöpfung so oder so noch lange keinen Schlaf finden würde - warum also nicht? Und plötzlich wollte er es sogar.
Er ließ sich bequemer auf dem Bett zurücksinken, wartete, bis auch Kiina in eine angenehmere Position gerutscht war, und begann mit leiser Stimme zu erzählen ...
11.
Von den Eisinseln des Dronte und aus einem Land, zwanzig Jahre und ein Menschenleben in der Vergangenheit gelegen, kehrte er zurück ins Hier und Jetzt, weil ihn zweierlei Dinge weckten: ein im ersten Moment undefinierbares Geräusch, das mit einer Ahnung von Gefahr verbunden war, und das gleichmäßige Streicheln warmer Atemzüge an seinem Hals. Erst danach spürte er die Berührung von seidenweichem Haar auf seinem Gesicht und die Wärme eines schlafenden Körpers an seiner rechten Seite.
Skar öffnete die Augen, blickte einen Moment lang irritiert auf das schlanke blonde Mädchen herab, das sich im Schlaf an ihn gekuschelt und den Arm über seine Brust gelegt hatte, und begriff erst mit einiger Verspätung, wo er sich befand und was geschehen war: Es war nichts weniger Harmloses als der einfache Umstand, daß er eingeschlafen war, irgendwann inmitten seiner Erzählung, und Kiina, müde und naiv, wie sie nun einmal mit ihren sechzehn Jahren war, hatte sich neben ihn gelegt - und warum auch nicht? Er hätte ihr Vater sein können, und auf einer schwer in Worte zu fassenden immateriellen Ebene war er es wohl auch, wenigstens ein bißchen. Und trotzdem war es ihm peinlich, so neben ihr aufzuwachen. Behutsam, um Kiina nicht zu wecken, nahm er ihren Arm von seiner Schulter, schob sich ein wenig zur Seite und knuffte mit der freien Hand sein Kissen zusammen, um es vorsichtig unter ihre Wange zu legen, dorthin, wo gerade noch sein Gesicht gewesen war. Kiina bewegte sich unruhig im Schlaf, und für einen Moment hatte er Angst, daß sie aufwachen könnte. Aber dann drehte sie sich nur herum, zerrte mit einer groben Bewegung die Decke heran und wickelte sich darin ein. Skar lächelte. Ein sonderbares Gefühl von Zärtlichkeit überkam ihn, und er mußte mit großer Kraft gegen den Impuls ankämpfen, die Hand zu heben und ihr über den Kopf zu streicheln.