»So?« Skar machte eine zornige Bewegung, welche die ganze Festung einschloß. »Bisher sieht es eher so aus, als hättest du verloren. Deine famose Burg hat uns nicht sehr lange aufgehalten.« Er machte eine Geste nach oben und hinter sich. »Und das Eis auf dem Fluß bricht auf. In einer Woche überwinden wir die Berge. Was soll uns dann noch aufhalten? Das lächerliche Heer, das sich in Ikne sammelt?«
»Ihr werdet es besiegen, ich weiß«, antwortete Drask gleichmütig. »Aber gebt acht, daß ihr euch nicht totsiegt, Satai. Eine gewonnene Schlacht ist nicht alles.«
Skar sah den alten Magier scharf an. Drasks Gesicht war gezeichnet von Schmerz und Alter und vor allem dem Prozeß des Sterbens, der vor zwei Tagen begonnen hatte und nun bald zu Ende sein würde. Aber es strahlte auch gleichzeitig eine sonderbare Art von Kraft aus, jene innere Kraft, die unerschütterliche Überzeugung verriet, das Wissen um Dinge, die allen anderen Menschen verborgen waren. Trotz seiner erbärmlichen Erscheinung und seines Sterbens hatte Drask noch immer eine Art von Größe an sich, die Skar schaudern ließ.
»Du hast mich gefragt, warum ich dich rufen ließ, Satai«, fuhr Drask nach einer Weile fort. »Ich will es dir sagen. Ich erwarte nicht, daß du mir glaubst, aber ich bin jetzt frei. Die Macht der Sternengeborenen ist nicht mehr in mir. Ich bin wieder der, welcher ich war, ehe ich zu ihnen ging, und ich sehe die Dinge jetzt, wie sie wirklich sind.«
»Und du bereust alles und willst mich warnen, mit deinen letzten Atemzügen.« Der böse Spott, den Skar in diese Worte hatte legen wollen, gelang ihm nicht. Sie klangen einfach nur so, wie sie waren: dumm.
»Nein«, widersprach ihm Drask. »Ich bereue nichts, und ich weiß jetzt mehr denn je, daß sie siegen werden. Frage mich nicht, wer sie sind, denn ich werde dir nicht antworten. Aber ihr werdet verlieren, Skar. Ihr werdet kämpfen und siegen und euch mit diesem Sieg selbst vernichten, denn sie können nicht besiegt werden. Ich warne dich, weil ich jetzt sehe, wie es kommen wird, sehr deutlich.«
»Du sprichst von ihnen, als wären sie Götter«, entgegnete Skar. Drask nickte. »Das sind sie. Oh, nicht jene Art von Göttern, wie sie sich die Menschen selbst erschaffen haben, Satai. Diese Art von Göttern könnt ihr vernichten, denn sie haben immer nur so viel Macht, wie die, welche sie schufen, ihnen zugestehen. Die Götter sind sterblich, aber die Sternengeborenen nicht.«
»Wer sind sie?« fragte Skar, obgleich Drask ihm vor Augenblicken erst gesagt hatte, daß er diese Frage nicht beantworten würde. Drask lächelte auch nur schwach und schüttelte den Kopf. Aber er antwortete trotzdem: »Wesen von unbeschreiblicher Macht, Skar. Nicht einmal die Alten konnten sie besiegen, obgleich auch ihre Macht der von Göttern gleichkam.«
»Das ist eine etwas vage Beschreibung, findest du nicht?« wandte Skar ein.
Drask lächelte. »Die einzige, die ich dir geben kann. Und die einzige, die ich dir geben will. Ich habe dich nicht gerufen, um alle meine Geheimnisse mit dir zu teilen, Satai. Ich will dich warnen.«
»Wovor?«
»Vor dem, was ihr vorhabt«, antwortete Drask ernst. »Ihr könnt uns besiegen - uns, die Zauberer, nicht die, für die wir arbeiten. Ich gebe zu, daß wir euch unterschätzt haben. Niemand hat damit gerechnet, daß die Satai so stark sein würden, und niemand von uns hat damit gerechnet, daß sie sich ausgerechnet mit den Quorrl zusammentun würden. Und niemand hat mit dir gerechnet. Ihr werdet uns schlagen, binnen eines Jahres. Jetzt, wo du wieder da bist, wird das Netz zerreißen, das meine Brüder und ich über Enwor gewoben haben. Aber ihr werdet alles nur noch schlimmer machen.«
»Gibt es etwas Schlimmeres, als eine ganze Welt zu versklaven?« fragte Skar.
»Ja«, antwortete Drask mit großem Ernst. »Eine ganze Welt zu vernichten, Skar. Ihr werdet uns schlagen, daran besteht kein Zweifel. Wir hätten euch besiegt, wir hätten die Veden besiegt, wir hätten die Sumpfleute besiegt und wir hätten vielleicht sogar die Quorrl besiegt. Aber alle zusammen seid ihr zu stark für uns. Ihr werdet siegen. Aber wenn ihr es getan habt, Skar, wenn ihr das Schwert senkt und der letzte von uns vernichtet ist, dann werdet ihr feststellen, daß ihr Enwor in einem Meer von Blut und Gewalt ertränkt habt. Du wirst die Welt, in der du geboren bist, nicht mehr wiedererkennen, wenn alles vorbei ist.«
Seine Worte machten Skar betroffen, aber auch gleichzeitig zornig. Ohne auf die drohende Gebärde des Quorrl zu achten, trat er einen weiteren Schritt auf Drask zu und beugte sich erregt vor. »Und was erwartest du von mir, alter Mann?« fragte er aufgebracht. »Daß ich hingehe und ihnen sage, sie sollen die Waffen senken und sich ergeben? Das ist lächerlich!«
»Natürlich«, erwiderte Drask. »Du würdest es nicht tun, und selbst, wenn du es tätest, würden sie nicht auf dich hören. Es waren Männer wie Del, die unserem Plan Aussicht auf Erfolg versprachen, vergiß das nicht. Aber du kannst etwas anderes tun, vielleicht als einziger. Etwas, wozu selbst meine Brüder und ich nicht in der Lage sind.«
»Und was?«
»Geh zu ihnen«, antwortete Drask. »Geh zu den Sternengeborenen, Skar. Du kannst es.«
Seine Worte trafen Skar wie ein Hieb ins Gesicht. Er hatte irgendeinen verrückten Vorschlag von Drask erwartet, vielleicht auch nur leere Drohungen, nicht einmal das Angebot, die Seiten zu wechseln und den Sternengeborenen den Sieg zu ermöglichen, um etwa damit den Menschen Enwors das Überleben zu garantieren, hätte ihn überrascht.
Aber das?!
»Du kannst es, Skar«, fuhr Drask fort, dem seine Erschütterung natürlich keineswegs entgangen war. »Vielleicht bist du der einzige Mensch auf dieser Welt, der es vermag, denn du bist zu einem Teil einer von ihnen.«
»Das ist... lächerlich«, widersprach Skar. Er hatte Mühe zu sprechen. Hinter seiner Stirn tobte das Chaos, und er war nicht fähig, auch nur einen einzigen halbwegs klaren Gedanken zu fassen. Und das Entsetzlichste war, daß er es trotz allem irgendwie ... erwartet hatte.
»Etwas von ihnen ist in dir«, beharrte Drask. »Du weißt es. Du hast es immer gewußt, und du weißt es auch jetzt. Geh zu ihnen, Skar. Geh zu ihnen und versuche zu tun, was meinen Brüdern und mir nicht möglich war.«
»Und was soll das sein?« fragte Skar. Es fiel ihm noch immer schwer zu denken. Er antwortete rein automatisch, ohne wirklich zu wissen, was er sagte. Drasks Worte hatten ihn bis auf den Grund seiner Seele erschüttert. Verwirrt blickte er zwischen dem alten Mann und dem Quorrl hin und her, ohne einen von ihnen wirklich zu sehen. Alles drehte sich um ihn.
»Bitte sie um Frieden, Skar«, antwortete Drask. »Gib ihnen, was sie haben wollen.«
»Oh«, stieß Skar bitter hervor. »Mehr nicht? Du verlangst von mir, daß ich ihnen Enwor schenke?«
»Es ist eure einzige Chance«, versicherte Drask. »Nicht Enwor. Nur einen kleinen Teil. Gib ihnen einen Teil, um das Ganze zu retten. Wir können sie nicht besiegen. Niemand kann das. Aber wir können mit ihnen leben.«
»So wie die Alten?« fragte Skar böse.
Drask versuchte, eine abfällige Geste zu machen, was aber durch seine aneinandergeketteten Handgelenke kläglich mißlang. Der Kopf des blinden Quorrl ruckte drohend herum, als er das Klirren des silbernen Stahles vernahm. »Die Alten waren Narren«, antwortete Drask heftig. »Sie hatten die Macht von Göttern, aber sie waren Narren. Sie holten die Sternengeborenen vom Himmel, aber sie begriffen nicht, daß man einem Volk nicht seine Welt nehmen kann, ohne ihm eine andere zu geben.«