»Nein«, antwortete Skar. »Oder doch. Ein Mann kam mir entgegen, oben auf der Treppe. Aber er hat mich nur gesehen. Er weiß nicht, was passiert ist.«
»Gut«, sagte Del. »Dann bleib hier, bis ich zurückkomme. Du kümmerst dich um ihn, Kiina.« Er wartete Kiinas und Skars Antwort nicht ab, sondern fuhr auf der Stelle herum und rannte mit wehendem Mantel aus dem Raum. Die Tür fiel krachend hinter ihm ins Schloß.
»Was hat er vor?« fragte Kiina.
»Ich weiß es nicht. Aber was immer es ist, es wird nichts nutzen«, antwortete Skar. »Wer immer mich heute im Schlaf besucht hat, war sehr gründlich.« Er versuchte zu lächeln. »Sie haben mir sogar meine Hosen gestohlen.«
Kiina lächelte, aber ihre Augen blieben ernst. »Sei froh, daß sie nicht deinen Kopf mitgenommen haben«, tröstete sie ihn. »Viel hätte nicht gefehlt. Halt jetzt still. Es wird weh tun.« Das war - vorsichtig ausgedrückt - untertrieben, fand Skar. Was immer sie tat, trieb ihm die Tränen in die Augen, und es dauerte ekelhaft lange. Skar hatte das Gefühl, daß sie mindestens eine Stunde lang mit angefeilten Fingernägeln in seiner Wunde herumgewühlt haben mußte, als sie endlich fertig war und damit begann, ein zweites Tuch in schmale Streifen zu reißen, um damit einen Verband zu improvisieren. Aber er ließ auch diesen Teil ihrer Behandlung - fast - klaglos über sich ergehen und bewegte sich erst, als sie es ihm mit einer Geste gestattete. Vorsichtig hob er die Hand und tastete über den schmalen, aber sehr straff angelegten Verband, der sich um seinen Schädel spannte.
»Sehr gut«, lobte er. »Wo hast du das gelernt?«
»Wo hast du gelernt zu kämpfen?« fragte Kiina.
Es war ein harmloser Scherz, aber es fiel Skar plötzlich schwer, sich zu beherrschen und den jähen Zorn zu dämpfen, den ihre Antwort in ihm wachrief.
»Ich bin ein Kind der Errish«, fügte Kiina rasch hinzu, als sie seinen Unmut bemerkte. »Zwar keine richtige Ehrwürdige Frau, aber man bekommt so einiges mit, wenn man zwanzig Jahre lang unter ihnen lebt, weißt du?«
Zwanzig? Skar war überrascht. Er hatte sie nie nach ihrem Alter gefragt, aber sie doch sehr viel jünger eingeschätzt. Verwirrt nickte er, schob seinen unbegründeten Zorn auf die Schmerzen, die er ausgestanden hatte, und griff zum dritten Mal nach dem Weinbecher. Diesmal trank er sehr vorsichtig, denn er wollte den Tag nach allem nicht auch noch mit einem Rausch anfangen, und nach ein paar Schlucken stellte er den Becher auch zur Seite und griff stattdessen nach dem Krug mit Wasser, aus dem Kiina getrunken hatte.
Als er den Becher absetzte, sah er sein eigenes Spiegelbild in dem Rest Wasser, der noch darin schwappte, und plötzlich begriff er Dels und Kiinas Erschrecken sehr viel besser. Obwohl Kiina das meiste Blut bereits von seinem Gesicht gewischt hatte, bot er einen entsetzlichen Anblick: Seine Haut war bleich und glänzte unnatürlich, und unter seinen Augen lagen dunkle, schwere Tränensäcke. Die dünne gezackte Narbe auf seiner Wange leuchtete wie ein roter Strich und schien sich entzündet zu haben, und Kiinas Verband sah schlichtweg lächerlich aus - wie ein oben abgeschnittener Turban, der sich an einer Seite allmählich dunkel färbte.
»Gefällt es dir?« fragte Kiina spöttisch.
Skar machte: »Hm«, und aus Kiinas Lächeln wurde ein geradezu unverschämtes Grinsen.
»Du wolltest ja nicht zu den Quorrl«, hielt sie ihm vor. »Ich bin sicher, Titchs Heilkundige hätten es besser gemacht. Aber immerhin kannst du jetzt beruhigt in die Zukunft sehen.«
»Wieso?« fragte Skar verwirrt.
»Weil dir nichts mehr passieren kann«, antwortete Kiina ernsthaft. »Wer meine Hilfe überlebt, den bringt gar nichts mehr um, weißt du?«
Skar war nicht sehr nach Lachen zumute, aber er verzog pflichtschuldig die Lippen, denn ihm war klar, daß Kiina diesen Scherz nur machte, um ihn aufzumuntern. »Dein Mitleid scheint sich sehr in Grenzen zu halten«, spottete er.
»Es geht«, bestätigte Kiina. »Wenn ich ganz ehrlich sein soll, - es tut beinahe gut zu sehen, daß auch ein Mann wie du verwundbar ist. Bleibst du jetzt hier?«
Die Frage kam so unvermittelt, daß Skar ganz automatisch nickte, ehe er überhaupt begriff, was sie gesagt hatte. Als er es verstand, packte ihn wieder der Zorn, und diesmal konnte er ihn nicht ganz unterdrücken. Ärgerlich ballte er die Hand zur Faust, setzte zu einer geschrienen Antwort an - und beherrschte sich im allerletzten Moment. Was war nur mit ihm los? Geduld war nie seine Stärke gewesen, aber das? Dieser entsetzliche Jähzorn machte ihm angst, umso mehr, als er nicht verstand, woher er kam.
»Vorerst«, antwortete er mühsam. »Ich... denke schon. Wenigstens, bis...«
»Was hast du?« fragte Kiina, als er nicht weitersprach.
Skar zuckte fast hilflos mit den Schultern. »Ich weiß es nicht«, gestand er. »Zorn. In mir ist so viel Zorn. Und ich weiß nicht einmal, warum.«
Kiina war nicht im mindesten überrascht. »Ihr müßt fort, Skar«, sagte sie, sehr leise, und sehr ernst. »Ich weiß, daß Del mir nicht glaubt, aber es ist dieser Ort.«
»Unsinn«, murrte Skar, aber das Wort klang nicht einmal in seinen eigenen Ohren überzeugend. »Ein Ort kann nicht böse sein. Böse sind nur denkende Wesen, Kind. Niemals ein Haus oder eine Stadt - oder eine Burg.«
»Er ist böse«, beharrte Kiina. »Ich weiß es. Ich kann es fühlen, Skar. Ich habe das alles schon einmal erlebt.«
Skar sah sie fragend an, und ein Schatten von Schmerz huschte über Kiinas Gesicht. »Ich habe das alles schon einmal erlebt«, wiederholte sie. »Es ist wie in Elay, Skar. Dort begann es genauso. Unsere Drachen haben sie geschlagen, aber der Sieg hat sie vergiftet.«
An jedem anderen Ort und aus jedem anderen Mund hätten die Worte einfach lächerlich geklungen, aber für einen kurzen Moment wußte Skar einfach, daß es ganz genau so war, wie Kiina behauptete - es war dieser Ort. Er hatte es selbst gespürt, gestern abend, als er gegen den Satai gekämpft hatte, diesen unbändigen, kaum mehr zu bezwingenden Drang zum Töten, diesen entsetzlichen Haß, den er plötzlich verspürte, und gerade eben erst, als er hereingekommen war und bei Dels und Kiinas Anblick nichts als Neid und Zorn gefühlt hatte, statt Erleichterung, zur Abwechslung einmal einen Menschen in dieser Burg zu sehen, der lachte. Und ganz plötzlich mußte er daran denken, wovor ihn Drask gewarnt hatte, kurz bevor er starb: Gebt acht, daß ihr euch nicht totsiegt, Satai.
Dels Rückkehr bewahrte ihn davor, antworten zu müssen. Der hünenhafte Satai kam im Sturmschritt in den Raum gerannt, wobei er die Türen so heftig aufstieß, daß sie gegen die Wand prallten und zitternd zurückfederten. Skar sah die Umrisse zahlreicher anderer Gestalten hinter ihm auf dem Gang. Aufgeregte Stimmen drangen an sein Ohr, und keine zwei Schritte hinter Del wuchs ein schuppiger Koloß in die Höhe, betrat das Zimmer aber nicht.
»Du hattest recht«, begann Del übergangslos. »Jemand hat gründliche Arbeit in deiner Kammer geleistet - sie sieht aus, als wären Titchs Quorrl hindurchgestürmt, fünfmal hintereinander.«
»Um das herauszufinden, hättest du nicht -«, begann Skar, wurde aber sofort von Del unterbrochen, der unbeirrt und jetzt in fast triumphierendem Tonfall weitersprach: »Trotzdem hat er einen Fehler begangen. Der Diebstahl war nur vorgetäuscht.«
»Ach?« sagte Skar spöttisch.
»Dein Schwert ist nicht da«, begründete Del seine Vermutung. »Das ist nur logisch«, meinte Kiina. »Ein Satai-Schwert ist unglaublich wertvoll.«
»Es ist nicht wertvoll«, berichtigte sie Del herablassend. »Es ist tödlich, Kind. Nicht einmal der dümmste Narr würde es einem Dieb abkaufen. Nur Satai dürfen Tschekal führen, und nur die Hohen Satai haben das Recht, ein Rubinschwert zu tragen. Niemand wäre so dumm, dieses Schwert zu stehlen.«