»Es war keine Hinrichtung. Es war ein Unfall«, antwortete Del ruhig. Sein Blick wurde warnend, fast beschwörend, aber Skar reagierte nicht darauf. Er hatte es schon vorher gespürt, aber spätestens seit dem Gespräch mit Kiina wußte er, wie sinnlos es war, weiter Theater zu spielen. Jedermann hier in der Festung wußte, wie es zwischen Del und ihm stand.
»Ein Unfall, so?« fragte er höhnisch. »Und dabei ist leider Gottes ein Mann umgekommen. Aber das macht ja nichts - wir haben ja genug davon.«
Del preßte die Lippen zusammen, aber die scharfe Entgegnung, auf die Skar wartete, kam nicht. Statt dessen beugte er sich zu dem Toten hinab, hob ihn ohne sichtliche Anstrengung hoch und zur Seite und begann sein Gepäck zu durchwühlen. Er brauchte nur Augenblicke, um zu finden, wonach er gesucht hatte: einen gut meterlangen, schlanken Gegenstand, der in eine zerschlissene Satteldecke gewickelt war.
Del warf ihm einen raschen, triumphierenden Blick zu, stand auf und begann, das Bündel mit übertrieben dramatischen Bewegungen auszuwickeln. Unter dem schmutzigen Stoff kam eine schlanke, beidseitig geschliffene Klinge zum Vorschein. Der Griff des Tschekal war mit einem daumennagelgroßen, blutroten Rubin geschmückt.
»Du hattest recht, Skar«, sagte er hart. »Es macht nichts - ich hätte den Mann sowieso hinrichten lassen. Er hat sogar Glück gehabt. Der Hund hat es sehr viel schneller erledigt, als ich es hätte tun können.«
»Aber -«
»Du weißt, welche Strafe einem Satai droht, der die Hand gegen seinen Herrn erhebt«, fuhr Del unbeirrt fort. Er warf die Fetzen zu Boden und hielt Skar das Tschekal hin. Skar machte keine Bewegung, um es entgegenzunehmen.
Dels linke Augenbraue rutschte ein Stück nach oben und verschwand fast unter seinem schwarzen Haar. »Was hast du?« fragte er. »Nimm es. Es ist nur dein Eigentum.«
Skar griff nun doch zögernd nach dem Schwert. Verblüfft blickte er auf den Toten herab, dann wieder auf die schlanke Klinge aus Sternenstahl in seiner Hand. Unmöglich! dachte er. Das ergab einfach keinen Sinn. Und er sprach diesen Gedanken auch laut aus.
Del sah ihn sehr ernst an, antwortete aber nicht, sondern ließ sich ein zweites Mal in die Hocke sinken und fuhr fort, das Gepäck des Toten zu durchsuchen. Nach einer Weile richtete er sich wieder auf und hielt Skar einen schmalen Lederbeutel hin. »Und das gehört dir auch«, sagte er. »Wieviel Geld hattest du?« Skar zuckte mit den Achseln. »Sieben oder acht Dirne«, antwortete er.
Del öffnete mit steinernem Gesicht den Beutel, schüttete den Inhalt in seine ausgestreckte Hand und zählte leise acht der kleinen, sechseckigen Goldmünzen ab. Skar entging es nicht, daß er nur noch mit Mühe ein triumphierendes Lächeln unterdrückte.
»Aber das ist vollkommen ausgeschlossen!« beharrte er. »Del, überleg doch! Niemand wäre so wahnsinnig, mich zu überfallen, um mich zu bestehlen! Nicht mich!«
»Natürlich nicht«, pflichtete ihm Del ungerührt bei. »Aber um dich umzubringen, Skar. Das Schwert da hätte er weggeworfen, kaum daß er die Burg verlassen hätte, und das Geld kam ihm sicher nur recht. Und ich bin sicher, daß du auch alles andere bei seinen Sachen findest, was du vermißt. Die Idee war nicht einmal dumm - hätte er sich die Mühe gemacht, sich davon zu überzeugen, daß du wirklich tot bist, und hätte er nicht das Pech gehabt, daß ich gestern abend die Tore schließen ließ...« Er zuckte abermals mit den Achseln. »Wer weiß, vielleicht wäre ich sogar darauf hereingefallen. Es sah alles nach einem Raubüberfall aus.«
»Mich töten?«
Del deutete auf den Toten herab und machte eine bedauernde Handbewegung. »Ich kann ihn leider nicht mehr fragen, und du wirst ihn jetzt wohl kaum noch wiedererkennen - aber er war dabei, gestern abend.«
Es dauerte einen Moment, bis Skar überhaupt begriff. »Bei dem Kampf?« fragte er zweifelnd.
Del nickte. »Sicher. Ich bin sogar überzeugt davon, daß er derjenige war, der den Hund auf dich gehetzt hat.« Er lächelte schwach. »Wenn man es genau nimmt, war es so etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit. Er hat seine Strafe bekommen.« Skar wollte widersprechen, aber Del brachte ihn mit einer herrischen Geste zum Schweigen und wandte sich an die anderen Männer. »Verbrennt ihn. Seinen Besitz bringt ihr zu Skar. Es ist sicher noch das eine oder andere dabei, was ihm gehört.« Skar schüttelte fast hilflos den Kopf. »Das ist... Wahnsinn«, murmelte er. »Ich glaube es einfach nicht, Del!«
»Nein?« Del lachte leise, aber es klang nicht wirklich amüsiert, eher abfällig. »Was ist mit dir, Skar - erträgst du den Gedanken nicht, daß es jemand gewagt haben soll, die Hand gegen den Hohen Satai zu erheben? Oder ist dir diese Lösung einfach zu unkompliziert?«
»Nein«, antwortete Skar langsam. »Zu glatt, Del.«
Del sah ihn fragend an, aber Skar sagte nichts mehr. Er blickte abwechselnd die Geldbörse in seiner Hand und den Toten an; verstört und auch ein bißchen erschrocken, ohne ganz genau zu wissen, worüber. Aber er spürte, daß er der Lösung jetzt nahe war. Wer immer ihn in dieser Nacht überfallen hatte, es war nicht dieser Satai gewesen. Er wußte nicht, wer es statt dessen getan hatte, aber die einzelnen Bruchstücke begannen sich zu einem Ganzen zu formen. Nicht mehr sehr lange, und er würde endlich wissen, was hier vorging.
Er hoffte nur, daß es dann nicht bereits zu spät war.
Ohne ein weiteres Wort drehte er sich herum und verließ das Zelt. Del und die anderen folgten ihm nicht. Aber für einen Moment, einen ganz kurzen, zeitlosen Augenblick nur, glaubte er eine Gestalt in den Schatten neben dem Tor stehen zu sehen; eine kleine, schmale Gestalt mit eckigen Spinnengliedern, eine Gestalt ohne Gesicht und mit einer Haut aus schwarzem Chitin.
15.
Eine starke innere und auch äußere Unruhe hatte ihn ergriffen.
Kiinas Ratschlägen - wenn auch mit einiger Verspätung - folgend, war er schließlich doch zu einem der Quorrl-Heiler gegangen, um seine Wunden neu verbinden zu lassen. Aber er kehrte nicht in seine Unterkunft zurück - der Gedanke, Del zu treffen und sich wieder mit ihm zu streiten, war ihm unerträglich -, sondern suchte Titch; warum, wußte er eigentlich selbst nicht.
Er traf ihn nicht in seiner Kammer an, aber der Posten davor erklärte ihm, daß er die ganze Nacht über wach gewesen und noch vor Sonnenaufgang zum Gemach des Heiligen Mannes gegangen sei, wie die Quorrl Bradburn unter sich nannten. Skar fand ihn auch jetzt noch dort, und er war nicht allein. Seine Quorrl schienen Dels Befehl ausgeführt zu haben, Bradburns Kammer auszubrennen, denn schon von weitem schlug Skar Brandgeruch entgegen, und als er in den Seitenstollen eindrang, an dessen Ende die Unterkunft des Predigers lag, wurde die Luft so schlecht, daß er fast Mühe hatte zu atmen. Eine dünne Schicht aus schwarzem, schmierigem Ruß bedeckte die Wände und die Decke, und seine Stiefelsohlen klebten bei jedem Schritt am Boden fest. Stimmen und dumpfe regelmäßige Hammerschläge hallten ihm entgegen, und ein riesenhafter Quorrl versuchte ihm den Weg zu verstellen, trat jedoch mit einer entschuldigenden Geste beiseite, als er ihn erkannte.
Die Kammer war von mehr als einem Dutzend Fackeln taghell erleuchtet, als er sie betrat. Titch stand, inmitten einer Gruppe aus sieben oder acht Quorrl, vor der gegenüberliegenden Wand und sah zu, wie seine Männer abwechselnd mit Hacken und großen metallenen Keulen auf das Mauerwerk einschlugen. Sie hatten bereits eine mehr als mannshohe Bresche geschlagen, hinter der schwarzfarbenes Erdreich und Gesteinstrümmer zum Vorschein kamen, und gerade in dem Moment, als Skar eintrat, löste sich ein weiteres, gewaltiges Bruchstück aus der Mauer und fiel polternd zu Boden. Titch sprang erschrocken zurück, als einer der Steinquader fast auf seine Füße gefallen wäre, und drehte sich in der Bewegung herum.