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»Was weißt du überhaupt?« schnappte Titch. Seine Wut verrauchte, aber das lodernde Feuer in seinem Blick blieb; und plötzlich wurde es Skar klar, daß es gar kein Zorn war; oder wenn doch, so ein Zorn, der nicht ihm galt, oder einem der anderen Männer in der Burg oder in dem Heer dort drüben, sondern einem unbarmherzigen Schicksal, das Titch nicht einmal die Spur einer Chance gelassen hatte, irgend etwas an seinem Verlauf zu ändern. Er versuchte vergeblich, sich in Titchs Lage hineinzuversetzen; nachzuempfinden, was ein Mann fühlen mochte, der dazu verurteilt war, vierzigtausend seiner Brüder in den sicheren Tod zu führen, ganz egal, wie gut oder schlecht er seine Aufgabe erfüllte. Er konnte es nicht. Der Gedanke war einfach unvorstellbar.

»Hat... Del davon gewußt?« fragte er stockend. »Als er euch rief, meine ich?«

»Del?« Titch überlegte einen Moment und machte dann eine abgehackte Bewegung, die Zustimmung wie Verneinung sein konnte. »Niemand weiß davon«, sagte er. »Vielleicht der Rat der Satai. Vielleicht der Bote, den sie zu den Goldenen geschickt haben. Aber ich glaube es nicht. Es ist kein Geheimnis, aber kaum einer weiß es. Es interessiert niemanden. Wir sind ja nur Quorrl.«

Skar war plötzlich sehr froh, den Quorrl nicht unterbrochen zu haben, um ihm zu versichern, daß auch er sein Geheimnis wahren würde, wie er es ursprünglich vorgehabt hatte. Andererseits - was hätte es denn auch geändert. Titch war ein Quorrl, trotz allem, und wahrscheinlich würden sie nie eine Übereinstimmung erzielen.

Plötzlich hatte er das absurde Bedürfnis, Titchs Freund zu sein. Er wußte, daß das unmöglich war, jetzt erst recht, aber etwas in ihm sehnte sich danach. Einfach danach, überhaupt einen Freund zu haben, und wenn es nur ein fischgesichtiger Quorrl war, der sich in Selbstmitleid übte.

Aber er sprach nichts von alledem aus, sondern ritt ein wenig schneller und tat so, als würde er sich ganz auf den Weg konzentrieren. Titch und seine Quorrl fielen ein Stück zurück, hielten dann aber immer denselben Abstand.

Zumindest der Teil seiner Befürchtungen, der ihn daran hatte zweifeln lassen, die richtige Stelle wiederzufinden, behielt unrecht. Er fand sie am Flußufer auf Anhieb, und er fand auch die Spur, die ihn letztlich zu der toten Errish geführt hatte. Sie war so frisch wie vor zwei Tagen; weder der Schnee noch das einsetzende Tauwetter hatten sie verwischt. Und er fand auch den Felsen wieder, obgleich es diesmal keinen Schatten gab, der ihn lotste. Es war, als hätte sich jeder Fußbreit Boden unauslöschlich in sein Gedächtnis eingebrannt, obgleich er noch vor Augenblicken gedacht hatte, wie ähnlich sich doch die zahllosen kleinen Felstäler und -schründe waren. Sie hatten die Pferde am Fluß zurückgelassen, und nach kaum fünf Minuten standen sie vor dem zyklopischen Findling, auf dem Skar auf den Daij-Djan und die Tote getroffen war.

Diesmal brauchte er nur kurze Zeit, um ihn zu besteigen, denn es gab keinen Grund mehr, vorsichtig zu sein. Titch sprach kein einziges Wort mit ihm, aber er kletterte kraftvoll und überraschend geschickt neben ihm her und erreichte das winzige Plateau fast im selben Moment wie er. Skar war sich nicht sicher - das hieß: Eigentlich war er es doch, er verstand es nur nicht -, aber für einen Moment glaubte er ein erschrockenes Zucken über das Gesicht des Quorrl huschen zu sehen. Der Daij-Djan war nicht da.

Natürlich nicht, du Narr! wisperte eine Stimme hinter seiner Stirn. Was hast du erwartet? Daß er es sich hier bequem gemacht und auf dich gewartet hat, um ein wenig mit dir zu plaudern? Er vertrieb den Gedanken, wartete, bis Titchs Begleiter einer nach dem anderen zu ihnen hinaufgestiegen waren und deutete dann auf die Tote. »Das ist sie«, sagte er überflüssigerweise. Titch musterte die verendete Daktyle und ihre bizarre Reiterin einen Moment lang sehr aufmerksam, dann machte er eine befehlende Geste zu seinen Kriegern.

»Zieht ihr die Kleider aus«, gebot er. »Wir nehmen alles mit. Auch den Sattel und was sie sonst noch bei sich hat.«

Die Quorrl zögerten. Titch wiederholte seinen Befehl im zischelnden Idiom seines Volkes, und diesmal setzten sich die Krieger gehorsam in Bewegung. Behutsam hoben sie die Tote vom Rücken des Drachenvogels herunter und begannen, sie zu entkleiden. Wie fast immer in letzter Zeit übernahmen Titchs Quorrl die Arbeit, während sich Skar darauf beschränkte zuzusehen, aber diesmal gab es nichts in ihm, was sich dagegen gesträubt hätte - trotz der Kälte waren sowohl die Daktyle als auch ihre Reiterin bereits teilweise in Verwesung übergegangen, und sein Ekel erwies sich einfach als stärker als sein Gewissen. Der Geruch war entsetzlich, und die Errish - obgleich sie einmal eine schöne Frau gewesen sein mußte - bot einen alles andere als angenehmen Anblick, als die Quorrl darangingen, sie aus ihrer bizarren Insekten-Rüstung zu schälen. Skar war fast froh, als Titch nach einiger Zeit zurücktrat und es seinen Kriegern überließ, die Tote vollends zu entkleiden, und er es ihm gleichtun konnte. Er wandte den Blick ab.

Titch lachte leise. »So zart besaitet, Satai?« fragte er.

»Nein«, antwortete Skar, nach kurzem Überlegen und bewußt herausfordernd und verletzend. »Menschlich. Aber dieses Wort ist dir wahrscheinlich fremd, Quorrl.«

Titch sah ihn aus seinen schmalen, geschlitzten Augen auf eine Art an, die Skar mehr verwirrte als beunruhigte. »Das stimmt, Satai«, antwortete er. »Ich bin kein Mensch. Ich weiß nicht, ob ihr unsere Gefühle nachempfinden könnt - wir können eure jedenfalls nicht begreifen. Und wir urteilen auch nicht darüber.« Etwas war seltsam. Es war ein Teil des alten Nadelstich-Spieles, das sie spielten, seit sie sich kennengelernt hatten, aber Skar spürte ganz deutlich, daß es nicht das war, was Titch fühlte. Wie um die Behauptung des riesenhaften Quorrl im Augenblick zu widerlegen, spürte er einfach, daß hinter dem flachen Fischgesicht des Schuppenkriegers weit mehr vorging, als Titch zugeben wollte. Und vielleicht waren seine herausfordernden Worte einzig dazu bestimmt, genau dies zu überspielen. Er hatte die kleine Entgleisung von vorhin noch lange nicht überwunden. Sicher bedauerte er schon lange, Skar gegenüber so offen über seine intimsten Gedanken geredet zu haben.

Statt zu antworten, wandte Skar sich wieder um und zwang sich, die tote Errish anzusehen. Er war überrascht, als er feststellen mußte, wie jung sie noch war. Als er sie gefunden hatte, vor zwei Tagen, hatte er sie auf vierzig Jahre geschätzt, vielleicht mehr. Aber das stimmte nicht. Sie mußte sehr viel jünger gewesen sein, vielleicht nicht einmal dreißig. Ihr Körper war der einer jungen Frau, und das, was er in ihrem zerstörten Gesicht für Alter gehalten hatte, war in Wahrheit der Ausdruck eines tiefen, unauslöschlich eingebrannten Schmerzes. Sie war verhärmt, nicht alt. Und - es war absurd, aber gleichzeitig so klar, daß es keinen Zweifel gab - er spürte einfach, daß sie eine sehr mächtige Frau gewesen war; kein dummes Kind wie Kiina, und keine willenlose Puppe wie die Errish, die sie beim Kampf gegen die Drachen getötet hatten.

Widerstrebend ließ er sich neben der Toten in die Hocke sinken und streckte die Hand aus, wie um sie zu berühren, ohne es jedoch wirklich zu tun. Ihre Augen standen noch offen, und auch in ihnen - vielleicht nur darin - stand dieser tiefe, unauslöschliche Schmerz, der ihn so erschreckte. Etwas war falsch. Er hatte einen Fehler gemacht. Etwas falsch gedeutet.

»Nichts«, bemerkte Titch in diesem Moment. »Wir hätten uns den Weg sparen können.«