Skar sah auf. Der Quorrl durchsuchte die Habseligkeiten der toten Errish, mit schnellen, äußerst ungeduldigen Bewegungen. Wie Skar hatte er sich in die Hocke sinken lassen, was bei seiner gewaltigen Körpermasse einen fast schon absurden Anblick bot, und eigentlich durchsuchte er die Sachen der Errish nicht, sondern fetzte sie mit seinen gewaltigen Krallenhänden auseinander - seine Pranken zerrissen die ledernen Satteltaschen der Daktyle, als wären sie aus Papier.
Skar runzelte die Stirn. Titch spielte ihm etwas vor, und er hätte schon blind sein müssen, um das nicht zu bemerken. Der Quorrl war vielleicht ein gewaltiger Krieger, aber ein miserabler Schauspieler. Aber warum?
Er sprach nichts von seinen wahren Gedanken aus, sondern hob noch einmal die Hand, um die Augen der Toten zu schließen. Aber er konnte es nicht. Der Gedanke, diesen kalten, fast schon in Zersetzung übergegangenen Körper zu berühren, war ihm unerträglich.
Statt dessen stand er auf, ging die zwei Schritte zu der toten Daktyle hinüber und besah sich die riesige Flugechse zum ersten Mal genauer.
Er hatte niemals eine größere Daktyle gesehen. Selbst das Tier, das Drask ihm gegeben hatte, um zu Dels Lager zu fliegen, war weniger muskulös und wild gewesen als dieses schwarze Ungeheuer. Sein Kopf war fast so groß wie der Körper eines Mannes, und die ledernen Schwingen, auf die es sich noch im Tode stützte, mußten ausgebreitet an die zwanzig Meter messen. Skar schauderte, als er sich vorzustellen versuchte, welche ungeheuerliche Kraft diese Bestie gehabt haben mußte. Für einen Moment erschien ihm der Gedanke einfach lächerlich, daß sie gegen Monster wie diese Krieg führten.
Aber da war noch etwas. Etwas, das der Anblick der Daktyle in ihm auslöste, und es dauerte eine Weile, bis er selbst begriff, was es war.
»Titch«, rief er.
Der Quorrl stand auf und trat neben ihn.
»Schau dir diese Daktyle einmal genau an«, forderte Skar ihn auf. Er blickte Titch nicht an, aber er spürte die Bewegung des Quorrl, und er wußte, daß sich hinter der flachen Stirn des Schuppenkriegers die gleichen Überlegungen abspielten wie hinter seiner eigenen.
»Sie ist... sehr groß«, sagte Titch zögernd.
Skar nickte. »Ein Gigant. Die größte Daktyle, die ich je gesehen habe. Und ich habe eine Menge gesehen.«
Titch sah ihn verwirrt - aber vielleicht auch lauernd - an. »Was meinst du?«
Skar zuckte mit den Achseln. »Nichts. Ich... denke nur laut nach. Ein Tier wie dieses muß ... sehr wertvoll sein.«
»Vermutlich«, bestätigte Titch.
»Man wird es nicht einfach so zum Fliegen benutzen«, fuhr Skar fort.
»Niemand fliegt einfach so«, entgegnete Titch. »Nur die Errish fliegen.«
»Das meine ich nicht«, widersprach Skar. »Es muß unglaublich weit fliegen können. Sieh dir diese Flügel an, Titch. Und diese Muskeln! Es muß doppelt so weit fliegen wie eine normale Daktyle.«
»Der Weg nach Elay ist weit«, antwortete Titch. Er klang ... nervös?
»Das meine ich nicht«, antwortete Skar. »Es ist...« Er sprach nicht weiter, sondern überwand seinen Widerwillen, scheuchte einen von Titchs Quorrl mit einer groben Handbewegung beiseite und bückte sich nach dem ledernen Futtersack, der wie ein künstlicher Kropf unter dem Hals des Tieres angeschnallt war. »Er ist leer«, stellte er fest, nachdem er ihn kurz abgetastet hatte. Er machte sich nicht einmal die Mühe, ihn zu öffnen. »Und?« fragte Titch.
Skar deutete auf die Habseligkeiten der Toten, welche die Quorrl auf dem Felsen ausgebreitet hatten. »Keine Vorräte, nicht einmal ein Wasserschlauch.«
Titch lachte humorlos. »Wasser ist nun wirklich genug hier«, gab er zu bedenken. »Und die Daktyle kann sich unterwegs Futter reißen, so viel sie will.«
»Wenn sie versucht, sich an eine schwerbewaffnete Burg wie die unsere anzuschleichen?« fragte Skar zweifelnd. »Kaum.« Er schüttelte entschieden den Kopf. »Diese Errish hat nie vorgehabt zurückzukehren«, behauptete er.
Zu seiner Überraschung widersprach Titch nicht, sondern nickte nach einer Weile schwerfällig. »Ein Selbstmordunternehmen«, vermutete er. »Was ist so ungewöhnlich daran? Vielleicht war sie überzeugt davon, Erfolg zu haben, und wollte einfach auf die warten, die ihr folgten.«
Titchs Worte klangen einleuchtend, aber Skar hatte in den letzten Tagen einfach zu viel gehört, was einleuchtend klang und doch falsch war. Vielleicht hatte Del ein bißchen recht gehabt mit seiner spöttischen Bemerkung, daß er es einfach nicht mehr ertrüge, eine einfache Lösung zu akzeptieren, aber diesmal irrte sich der Quorrl, das spürte er einfach. Es war, als wache er zum zweiten Mal aus einem unendlich tiefen, betäubenden Schlaf auf, und plötzlich begriff er, daß es die Burg war - ihr unheimlicher Einfluß vergiftete nicht nur ihre Seelen, er hatte ihn auch bisher daran gehindert, wirklich logisch nachzudenken. Aber mit einem Male, ganz plötzlich, funktionierte sein Denken wieder mit der alten, gewohnten Schärfe. Er erkannte sogar, daß es gerade umgekehrt war - er fand die Beweise für seinen Verdacht nicht, weil er danach suchte, sondern hatte den Verdacht gefunden, weil etwas in ihm die Indizien längst wahrgenommen und richtig gedeutet hatte.
Dicht neben Titch ließ er sich ein zweites Mal in die Hocke sinken und deutete auf das Gesicht der toten Errish. »Sieh es dir genau an«, verlangte er.
Titch gehorchte.
»Dir fällt nichts auf?«
Titch schüttelte den Kopf und sah ihn fragend an.
»Vermutlich würde es mir auch nicht auffallen, wenn hier ein toter Quorrl läge«, sagte Skar. »Aber diese Frau ist sehr lange hier gewesen, ehe sie starb. Sie hat tagelang Durst gelitten. Sieh dir ihre Lippen an, und die Augenlider. Sie muß gehungert haben.« Er hob die Hand und deutete auf die Daktyle, ohne sich aus der Hocke zu erheben. Plötzlich war alles glasklar, so deutlich, daß er sich vergeblich fragte, warum ihm all dies vor zwei Tagen entgangen war. »Und der Vogel! Erkennst du die Spuren im Fels? Den Dung und die frischen Kratzer, und die Wunden an seinen Läufen? Er hat versucht zu fliehen, wahrscheinlich aus Hunger und Durst.«
Titch nickte widerstrebend. »Worauf willst du hinaus?«
»Daß sie schon lange hier war«, antwortete Skar. »Tage, vielleicht Wochen, sicher aber ebensolange wie wir, Titch. Sie hat es nicht gewagt, ihr Versteck zu verlassen, um zum Fluß zu gehen oder sich ein Wild zu jagen, aus Angst, entdeckt zu werden.« Titch blickte ihn an, aber sein Gesicht war jetzt wieder ein ganz normales Quorrl-Gesicht - eine häßliche Fratze aus Schuppen und Knochenwülsten, auf der nicht das allermindeste Gefühl abzulesen war.
»Du meinst, sie hat hier auf uns gewartet?« fragte er.
»Oder auf jemand anderen.«
»Die Drachenreiter, die das Mädchen verfolgten?«
»Möglich.« Skar stand auf. Es war möglich, aber er war eigentlich überzeugt davon, daß es nicht so war. Aber was hatte sie dann hier gewollt? Was war in der Flasche gewesen, und warum hatte der Daij-Djan sie getötet, wenn sie - - nicht ihr Feind gewesen war?
Die Erkenntnis traf ihn mit solcher Wucht, daß er Titch volle zehn Sekunden lang aus aufgerissenen Augen anstarrte, ohne einen Laut, ja, ohne auch nur zu atmen. Es war die einzige Erklärung. Sie klang fast absurd, aber alles andere ergab noch weniger Sinn. Plötzlich glaubte er die Szene noch einmal zu durchleben, schneller und mit fast übernatürlicher Klarheit: Er sah die Tote, reglos auf dem Rücken der Daktyle, sah den Ausdruck ungläubigen Entsetzens m ihrem für immer erstarrten Gesicht, und er sah den Daij-Djan, die Sternenbestie, die dastand und ihn aus ihrem schrecklichen augenlosen Gesicht anstarrte, die Hand wie zu einem perfiden Gruß erhoben, aber das stimmte nicht, es war kein Gruß, es war ein Deuten auf die tote Errish und ihren Vogel, und es bedeutete nichts anderes als dies: Sieh sie dir an, Satai! Sieh dir an, was denen geschieht, die sich mir in den Weg gestellt haben! »Titch«, flüsterte er. »Wir waren Narren! Diese Errish war nicht unser Feind!«