Und für dieses Mal gewann er.
Der Daij-Djan senkte ganz langsam die Hand. Er wirkte verwirrt; vielleicht sogar ein bißchen erschrocken - es mußte das erste Mal sein, daß er auf einen gleichwertigen Gegner gestoßen war, seit er auf der Eisinsel des Dronte entstanden war, und vielleicht begriff er auch in diesem Moment zum allerersten Mal, daß es Mächte gab, die ihm gewachsen waren, ja, ihn vielleicht sogar vernichten konnten. Was dem Höllenfeuer des Dronte nicht gelungen war, das gelang dem unsichtbaren Etwas in Skar, und er - Skar erkannte den Fehler in diesem Gedanken und verscheuchte ihn. Er begann, menschliche Begriffe auf das Ungeheuer anzuwenden, aber an ihm war nichts Menschliches, nicht einmal wirklich Lebendes. Es war fremd, ungeheuer fremd. Kein Wesen einer anderen Welt, sondern das Geschöpf einer vollkommen anderen Natur. Es würde niemals Frieden geben zwischen ihnen. Es existierte keine gemeinsame Basis. Er würde niemals dahinterkommen, was hinter dem glatten konturlosen Gesicht des Ungetüms vorging. Er verstand nur, daß er gewonnen hatte, für diesen einen Moment. Daß der Daij-Djan seine Bedingung akzeptierte und die Quorrl leben ließ, um ihn nicht töten zu müssen. Dann, von einem Augenblick auf den anderen, verschwand das Ungeheuer. Es war einfach weg, wie ein böser Spuk. Aber der Alptraum war trotzdem noch nicht vorbei. Vielleicht begann er sogar erst wirklich in dem Moment, in dem Skar sich herumdrehte und zu Titch und den drei überlebenden Quorrl zurücksah. Die Krieger standen da, erstarrt, wie mitten in der Bewegung von einem bösen Zauber ergriffen und gelähmt, und stierten ihn an. Der einzige, der sich bewegte, war Titch: Der Quorrl-Führer hob die Hände, in einer Art, die Skar absurderweise fast an ein Gebet erinnerte, machte einen halben stockenden Schritt auf ihn zu und erstarrte dann ebenfalls. Sein Mund öffnete sich, aber kein Laut kam heraus.
»Er ist fort«, brachte Skar mühsam hervor. Plötzlich begannen auch seine Hände zu zittern. Sein Herz jagte, und heiße und kalte Schauer rasten abwechselnd über seinen Rücken. Die fürchterliche Kraft seines Dunklen Bruders war versiegt, und wie immer, wenn er die Bestie in sich entfesselt hatte, fühlte er sich hinterher ausgelaugt und müde; selbst das Schwert schien plötzlich zu schwer zu sein, um es zu halten. Er senkte die Klinge, setzte ihre Spitze auf dem Boden auf und stützte sich schwer auf den Griff. »Er ist fort«, wiederholte er. »Er wird euch nichts mehr tun.« Für diesmal. Aber das fügte er nur in Gedanken hinzu. Titch machte erneut einen Schritt auf ihn zu und blieb abermals stehen. Seine Augen waren starr und weit, er blinzelte nicht, und aus seinem halb offenstehenden Raubtiermaul kam noch immer kein Laut. Aber Skar spürte überdeutlich, wie es hinter der Stirn des Quorrl arbeitete. Als Titch dann zum Reden ansetzte, klang seine Stimme flach und brüchig, wie die eines uralten kraftlosen Greises.
»Was hast du getan, Satai?« keuchte er. »Du hast... hast den Daij-Djan vertrieben! Er... er gehorcht dir!« Seine Glieder zitterten. Seine gewaltigen Pranken öffneten und schlossen sich unentwegt, als wolle er etwas packen und zerquetschen. Sein Atem ging schnell und schwer und stoßweise.
»Wir sind alte Freunde«, sagte Skar mit mattem Spott. Titch ächzte, und Skar sah ein, daß diese Bemerkung nicht sehr klug gewesen war - dies war nicht der Augenblick für Spott und Ironie; nicht einmal für Sarkasmus.
»Ich kenne dieses... Geschöpf«, fuhr er fort, sehr viel ernster. »Ich bin ihm ein paarmal begegnet, Titch. Aber wir -«
Titchs Schlag kam so schnell, daß Skar keine Chance blieb. Die Faust des Quorrl traf ihn zwischen Schulter und Hals, und diesmal schlug der Schuppenkrieger mit aller Gewalt zu. Skar spürte einen entsetzlichen Schmerz durch seine Schulter und seinen Nacken schießen, gefolgt von einer Woge lähmender Betäubung, die ihn in die Knie brechen und dann nach vorne fallen ließ. Er hatte nicht einmal mehr Kraft zu schreien.
Aber er verlor auch nicht das Bewußtsein. Ein fast wohltuender Dämmerzustand ergriff ihn, lähmte seine Glieder und zwang ihn, mit offenen Augen liegenzubleiben und hilflos zuzusehen, was weiter geschah.
Es war schlimmer als der Angriff des Daij-Djan, denn den hatte er zumindest noch verstanden. Was Titch jetzt tat, begriff er einfach nicht.
Der Quorrl starrte eine Sekunde auf ihn herab, dann erhob er sein Schwert mit beiden Händen und machte einen Schritt zurück.
Und schlug mit aller Gewalt aus der Drehung heraus zu.
Seine Klinge beschrieb einen perfekten, tödlichen Halbkreis, eine flirrende Bahn aus Silber und Blut, die den Kopf des ersten Kriegers glatt von seinen Schultern trennte und noch Schwung genug hatte, eine tiefe klaffende Furche in die Kehle des zweiten zu beißen. Titch schrie, ein Schrei voller Entsetzen und innerer Pein, wie Skar ihn selten zuvor von einem denkenden Wesen gehört hatte, vollendete seine Drehung und drang mit hoch erhobener Klinge auf den letzten überlebenden Mann seiner Leibgarde ein. Der Quorrl stand vier oder fünf Meter von ihm entfernt, und wie seine beiden Brüder war auch er bewaffnet, besser sogar als Titch - in seiner Hand lag eine gewaltige eiserne Keule, die Titchs Schwert wie ein Schilfrohr hätte zerbrechen können. Aber wie auch die anderen beiden machte er nicht einmal eine ausweichende Bewegung, sondern stand einfach da und sah Titch ergeben (und fast erleichtert? dachte Skar) entgegen, bis das Schwert des Quorrl seinen Schädel traf und bis zur Brust hinab spaltete.
16.
Es dauerte lange, bis Skar wieder fähig war, sich zu bewegen.
Die Lähmung wich nur ganz langsam aus seinen Gliedern, und mit dem Gefühl kehrte auch der Schmerz zurück - ein dumpfes, lang nachhallendes Hämmern, das in seiner Schulter begann, sich rasch in seinem Rücken und seinem Nacken ausbreitete und schließlich seinen Kopf erreichte. Skar mußte sich mit aller Macht beherrschen, um nicht aufzustöhnen; und noch mehr, um nicht die Hände gegen seine schmerzenden Schläfen zu pressen. Aber er wußte, daß es seine letzte Bewegung gewesen wäre, hatte er es getan. So lag er einfach da, rührte sich nicht und starrte Titch an, der sich nach dem Mord an seinen Brüdern einfach umgedreht hatte und zum anderen Ende des Plateaus gegangen war. Jetzt saß er auf dem Felsen, drehte Skar den Rücken zu und starrte ins Leere. Manchmal bewegte er die Hände. Seine Krallen fuhren langsam und unbewußt über den Felsen und erzeugten scharrende schrille Geräusche, die schmerzhaft in Skars Kopf widerhallten.
Minuten vergingen, reihten sich zu einer viertel-, schließlich zu einer halben Stunde, bis Skar sich in der Lage fühlte, aufzustehen und sich einigermaßen sicher zu bewegen. Sein Kopf schmerzte noch immer, und seine rechte Schulter schien gebrochen zu sein, zumindest aber übel geprellt. Er war nicht sicher, ob er mit dieser Schulter kämpfen konnte.
Aber das hatte er auch nicht vor. Es war das zweite Mal, daß er die entsetzliche Kraft des Quorrl am eigenen Leibe verspürt hatte, und diesmal hatte er endgültig begriffen, wie lächerlich die Vorstellung war, gegen diesen Koloß kämpfen zu wollen. Er mußte Titch sofort überwältigen, oder der Quorrl würde ihn töten, so einfach war das.
Vorsichtig, unendlich behutsam, stemmte sich Skar auf Hände und Knie hoch und streckte die Hand nach dem Tschekal aus, das ihm entfallen war. Er brauchte fast eine Minute für dieses kleine Vorhaben, und er ließ Titchs gekrümmten Rücken in dieser Zeit nicht für den Bruchteil einer Sekunde aus dem Auge. Endlich schloß sich seine Hand um das Satai-Schwert. Peinlich darauf achtend, kein Geräusch zu verursachen, verlagerte er sein Gewicht, stand vollends auf und trat lautlos nach links, einen großen Bogen um den Quorrl schlagend, damit ihn sein Schatten nicht verriet.