Besorgter, als er zuzugeben bereit war, trat er neben Kiina an die Brüstung heran und beugte sich vor, so weit er konnte. Der Wind biß ihm ins Gesicht und trieb ihm die Tränen in die Augen. Er hob die Hand über die Augen, kniff sie zu schmalen Schlitzen zusammen und konzentrierte sich, um mehr Einzelheiten ausmachen zu können. Es gelang ihm nicht. Das Lager war einfach zu weit entfernt, und die Nacht zu dunkel. Gegen die sie belagernde Finsternis wirkten die Lagerfeuer und Fackeln grell und blendeten ihn mehr, als sie ihn sehen ließen. Aber Kiina und sein erster Eindruck hatten recht - etwas geschah dort unten. Er wußte noch immer nicht, was es war, aber eines wußte er genau: Es war kein Wandel zum Guten hin. Alles wirkte plötzlich ein winziges bißchen hektischer, unruhiger, nervöser. Das Muster aus vierzigtausend Quorrl-Körpern war in Bewegung geraten wie buntfarbener Sand, der im Sieb eines Goldwäschers zitterte.
»Was tun sie?« fragte Kiina ängstlich.
Skar zuckte mit den Achseln und versuchte fast verzweifelt, mehr Einzelheiten zu erkennen. Nach einer Weile glaubte er ein Muster in der quirlenden Bewegung dort unten auszumachen - eine nur durch die riesige Entfernung langsam scheinende Wellenbewegung, die sich wie die Halbkreise eines am Ufer ins Wasser geworfenen Steines vom jenseitigen Rand des Lagers her durch die gesamte Masse der Quorrl-Armee zogen. Die Quorrl... flohen vor etwas dachte Skar verwirrt. Aber wovor? Und - Er erkannte es, eine halbe Sekunde bevor Kiina gellend aufschrie und mit dem ausgestreckten Arm nach unten deutete. Eine schnurgerade Reihe daumennagelgroßer Reitergestalten war aus der Dunkelheit herausgebrochen und verfolgte mit angelegten Lanzen die flüchtenden Quorrl, gefolgt von einer zweiten, dritten und vierten Schlachtreihe gepanzerter Reiter. Und hinter ihnen, getrennt durch wenige Zoll, die auch in Wirklichkeit nicht mehr als zwei-, dreihundert Schritte sein konnten - hinter diesen drei-, oder vierhundert Veden-Reitern brachen Tausende und Abertausende schwarzgekleideter Gestalten aus der Nacht heraus! -
»Nein!« stammelte Skar. »Das... das sind ... das sind unsere eigenen Leute, Kiina! SIE GREIFEN DIE QUORRL AN!!« Er fuhr herum, packte Kiina mit beiden Händen bei den Schultern und schüttelte sie so heftig, daß sie erschrocken aufschrie. »Es sind Satai, Kiina!« schrie er noch einmal. »Es ist das Heer aus Denwar! Und sie greifen Titch an!«
Kiina versuchte sich aus seinem Griff zu befreien und sagte etwas, das Skar nicht einmal verstand. Er ließ sie los, stürzte wieder zur Brüstung und sah nach Westen. Das Muster aus Lagerfeuern jenseits des Flusses brannte noch immer so ruhig und unverändert wie bisher, aber er begriff plötzlich, warum es so wenige waren. Es konnten nur ein paar Dutzend, allerhöchstens wenige hundert Männer sein, die wirklich dort draußen auf der Ebene zurückgeblieben waren - der weitaus größte Teil des Heeres mußte den Fluß außer Sichtweite überschritten und einen Bogen geschlagen haben, um den Quorrl in den Rücken zu fallen. Aber warum? Warum nur?
Ungläubig starrte er wieder auf den Lagerplatz der Quorrl hinab. Durch die Nacht wehten jetzt die ersten Schreie und der Lärm des losbrechenden Kampfes herauf, begleitet von einem dumpfen, mehr und mehr anschwellenden Raunen und Dröhnen, das Skar nur zu gut kannte - es war das Geräusch der Schlacht, die Kampfschreie aus Tausenden von Kehlen, die sich zu einer schrecklichen Todesmelodie vereinten. Die Veden-Reiter hatten die Reihen der Quorrl mittlerweile durchbrochen und begannen, sich zu einem spitzen V zu formieren, um das Lager in zwei Hälften zu spalten, zwischen die die nachdrängenden Krieger dringen konnten. Aber Skar sah auch, daß sich unter den Quorrl bereits der erste Widerstand zu formieren begann: Hier und da bildeten sich kleine Gruppen, die dem ungestümen Anprall der Reiterei standzuhalten versuchten; natürlich vergeblich. Sie wurden einfach über den Haufen geritten. Aber die bisher fast mathematisch ausgerichtete Schlachtreihe der Veden bekam Beulen und Einbuchtungen, und ihr Ansturm verlor langsam, aber unerbittlich an Schwung. Skar wußte, daß sich das Blatt sehr schnell wenden konnte, wenn sich die Quorrl erst einmal wirklich von ihrem Schrecken erholt hatten. Immerhin waren sie den Männern aus Denwar um mehr als das Doppelte überlegen, allein an Zahl. Wie das Verhältnis ihrer Kampfkraft aussehen mochte, wagte sich Skar erst gar nicht vorzustellen.
Er fuhr herum, war mit einem Sprung bei der Tür und trat sie kurzerhand ein. Der Mann, der dahinter gestanden hatte, wurde einfach gegen die Wand geschleudert und brach stöhnend zusammen. Skar schleuderte ihn mit einem Fußtritt vollends zu Boden, sprang über ihn hinweg und überlegte sich einen Augenblick zu spät, daß es vielleicht klug gewesen wäre, sein Schwert an sich zu nehmen. Aber er verschwendete keine Zeit damit, noch einmal zurückzulaufen. Immer zwei-, drei-, manchmal vier Stufen auf einmal nehmend, hetzte er die Treppe hinunter, hastete den Korridor zu seinem Zimmer entlang und stürmte daran vorbei. Weit hinter ihm klangen Kiinas Schreie auf, die ihm verzweifelt nachrief, auf sie zu warten, aber er achtete auch darauf nicht. Der Lärm der Schlacht war jetzt auch hier drinnen zu hören, wie ein fernes, noch nicht eindeutig zu identifizierendes Summen. Aber er wurde lauter. Skar rannte weiter, über die nächste Treppe hinunter und die folgende und erreichte endlich die Tür, die auf den Hof hinausführte.
Seine Hoffnung, die Wächter einfach überraschen zu können, erfüllte sich nicht. Einer der Männer sah in seine Richtung, als er die Treppe hinuntergepoltert kam, und gab einen halblauten, warnenden Ruf von sich. Die vier Krieger zogen gleichzeitig ihre Waffen und formierten sich zu einem Halbkreis, dessen offene Seite auf ihn zeigte.
Skar trat dem ersten die Beine unter dem Leib weg, entrang dem zweiten das Schwert, wobei er sich einen tiefen, blutenden Schnitt im Oberschenkel einhandelte, und schwang die Waffe zu einem wütenden Hieb, der den beiden anderen Kriegern gleichzeitig die Klingen aus den Händen prellte. Das Ganze ging so schnell, daß sich der erste Krieger noch nicht einmal halb vom Boden hochgerappelt hatte, als seine drei Kameraden auch schon entwaffnet vor Skar standen.
»Die Tür auf!« schrie Skar. »Schnell!«
Einer der Satai hob beinahe flehend die Hände. »Herr, wir dürfen Euch -«
Skar schlug ihm den Schwertknauf ins Gesicht. Der Mann brach keuchend zusammen, und Skar richtete die Spitze der erbeuteten Waffe auf einen zweiten Satai.
Diesmal zögerte der Krieger nicht. Hastig bückte er sich nach seinem Kameraden, der auf die Knie gefallen war und die Hände gegen die Wange preßte, zog einen Schlüssel aus seinem Gürtel und entriegelte damit das wuchtige Schloß. Skar versetzte ihm einen Stoß, der ihn gegen die Tür prallen ließ und sie damit aufstieß, warf den beiden anderen Satai einen letzten, warnenden Blick zu und stürmte auf den Hof hinaus.
In der Festung herrschte Chaos. Der Lärm der Schlacht wehte so laut aus dem Tal herauf, als tobe sie unmittelbar vor den Toren der Burg, und auf dem Hof schienen Hunderte von Gestalten zu sein, die schreiend - und, wie Skar mit einem Blick registrierte - ziemlich kopf- und ziellos durcheinanderliefen.
Er hörte einen erleichterten Ausruf hinter sich, wandte den Kopf und erkannte Kiina, in deren Hand jetzt ebenfalls ein Schwert blitzte. Mit einer Geste gab er ihr zu verstehen, daß sie zurückbleiben sollte, winkte sie aber dann doch zu sich heran. Besser, sie war bei ihm, bei dem Chaos, das hier gleich losbrechen würde.
»Kannst du damit umgehen?« fragte er mit einer Geste auf die Waffe in Kiinas Hand.
»Nicht so gut wie du, aber gut genug«, antwortete Kiina. »In Ordnung. Bleib immer dicht bei mir.« Er packte den erstbesten Krieger, der an ihm vorbeistürmte, grob am Arm und zerrte ihn zu sich herum. »Wo ist Del?«