»Ich weiß es nicht«, gab der Satai zur Antwort. »Oder doch - er muß auf dem Tor sein. Ich sah ihn den Wehrgang hinaufstürmen. Was ist geschehen, Herr? Greifen die Quorrl an?«
Skar rannte los, ohne ihn auch nur einer Antwort zu würdigen. Kiina fiel nach wenigen Schritten hinter ihm zurück, holte aber wieder auf, als er den Hof überquert hatte und die schmale Holztreppe zum Wehrgang hinauflief.
Oben auf der Mauer herrschte ein heilloses Durcheinander. Skar entdeckte Del schon von weitem - seine hünenhafte Gestalt überragte die der anderen Satai wie ein Fels -, aber es kostete ihn wertvolle Minuten, sich zu ihm durchzukämpfen. Kiina war abermals irgendwo in dem Durcheinander verschwunden, aber Skar war zuversichtlich, daß sie ihn finden würde. Sie hatte die Worte des Satai so gut gehört wie er.
»Was ist los?« fragte er, als er Del erreichte.
Del fuhr zusammen, blickte ihn eine halbe Sekunde lang überrascht an - und atmete dann fast erleichtert auf. Er verlor kein Wort darüber, wie Skar hierhergekommen sei. »Ich weiß es nicht«, gestand er mit einer Geste nach Osten. »Die Männer aus Denwar greifen die Quorrl an. Aber ich verstehe es einfach nicht. Sie ... sie müssen wahnsinnig geworden sein.«
Skar sah wieder ins Tal hinab. Es waren nur wenige Minuten vergangen, seit er den Turm verlassen hatte, aber selbst diese kurze Zeitspanne hatte bereits ausgereicht, seine schlimmsten Befürchtungen wahr werden zu lassen - von dem schwungvollen Angriff, den er von oben aus beobachtet hatte, war nicht mehr viel übrig geblieben. Er konnte von hier aus sehr viel weniger Einzelheiten erkennen als von der Höhe des Turmes, aber er sah immerhin, daß sich die beiden Heere ineinander festgebissen zu haben schienen. Auf der Ebene unterhalb der Burg war keine geordnete Schlachtformation mehr zu entdecken, sondern nur ein einziges, großes Getümmel, in dem Freund und Feind kaum mehr zu unterscheiden waren. Aber Skars Phantasie und Erfahrung reichten durchaus, sich auszumalen, was dort geschah. Wäre er an Titchs Stelle, dann hätte er die Spaltung seiner Armee durchaus zugelassen. Zumindest bis zu dem Augenblick, in dem die Hauptmacht der Angreifer heran war. Um sie dann zwischen den beiden Hälften einer Zange aus vierzigtausend Quorrl-Giganten einfach zu zermalmen. Was die Männer aus Denwar dort unten taten, war mehr als Wahnsinn. Es war Selbstmord. »Der Kommandant muß verrückt geworden sein«, rief Del fassungslos aus. Sein Gesicht war kalkweiß. Seine Hände krallten sich so fest um die Brüstung des Wehrganges, daß Blut unter seinen Fingernägeln hervorquoll. »Warum, Skar? Was geschieht dort?«
Skar wußte es nicht. Er wußte ... nichts mehr. Seine so sorgsam aufgebaute und scheinbar so einleuchtende Theorie war zusammengebrochen wie ein Kartenhaus. Er begriff nichts mehr. Er weigerte sich sogar zu glauben, was er sah.
»Sie haben keine Chance«, bemerkte er leise. »Titchs Quorrl werden sie in den Boden stampfen.«
»Ich weiß«, pflichtete Del ihm bei. Seine Stimme bebte. »Aber was -« Er stockte, verengte die Augen zu schmalen Schlitzen und deutete plötzlich aufgeregt nach Osten. »Sie brechen durch!« rief er. »Sieh doch, Skar - sie stoßen durch!«
Er fuhr herum, war mit einem Satz auf der anderen Seite des Ganges und beugte sich über die Brüstung. »Das Tor auf!« brüllte er in den Hof hinab, so laut er konnte. »Öffnet das Tor! Sofort! Bogenschützen auf die Mauer!«
Tatsächlich hatte sich das Bild im Tal abermals verändert. Skar hätte es noch vor Augenblicken kaum für möglich gehalten - aber einem Teil der Reiter war es tatsächlich gelungen, das Lager zu durchqueren und mit hoch erhobenen Schilden und angelegten Speeren einen Korridor mitten durch die Quorrl-Armee hindurch zu schaffen, durch den plötzlich mehr und mehr berittene Gestalten heranstürmten, rot und schwarz gekleidete Satai und Veden, die tief über die Hälse ihrer Pferde gebeugt dahinpreschten und sich unter dem Hagel von Pfeilen und Bolzen duckten, mit dem die Quorrl sie überschütteten.
Und dem ersten Wunder folgte ein zweites. Vielleicht hatten sich die Quorrl noch immer nicht wirklich von ihrer Überraschung erholt, vielleicht war es auch nur die Angst, die den Männern übermenschlichen Mut verlieh - aber die lebende Barrikade hielt. Immer wieder und wieder stürmten die Quorrl gegen die vierfach gestaffelte Reihe aus gepanzerten Reitern an, aber es gelang ihnen nicht, sie zu durchbrechen. Die hoch erhobenen Schilde und vorgereckten Speere der Männer bildeten eine fast undurchdringliche Barriere, und fiel einer von ihnen, so nahm sofort ein Ersatzmann seinen Platz ein.
Del fuhr plötzlich herum und deutete mit einer Kopfbewegung nach unten. Nebeneinander erkämpften sie sich ihren Weg zur Treppe und durch die schier endlose Reihe der Bogenschützen, die auf Dels Befehl hin auf die Mauer zu stürmen begann. Auf halber Strecke sah er Kiina wieder. Sie hockte mit angezogenen Beinen und schmerzverzerrtem Gesicht auf der Treppe und rieb sich das Hinterteil, auf das sie offenbar sehr unsanft gefallen war. Als sie Skar erkannte, lächelte sie wehleidig, stand aber sofort auf und folgte ihm und Del.
Das riesige bronzene Doppeltor war zur Hälfte geöffnet, als Skar und Del den Hof erreichten, und die ersten Reiter galoppierten bereits in den Hof; immer zu dritt oder viert nebeneinander in einer schier endlosen Reihe, die sich den gewundenen Serpentinenpfad vor dem Tor hinaufquälte. Skar hörte Schreie von der Mauer, sah kurz auf und erkannte, daß die Männer dort oben zu schießen begonnen hatten, um den Reitern Deckung zu geben. Del hob die Hand und rief ein paar Befehle, und ein Trupp von fast fünfzig Männern begann, den Satai aus den Sätteln zu helfen und in aller Hast die Tiere wegzubringen, um Platz für die Nachdrängenden zu schaffen. Aber der Hof würde nicht reichen, das wußte Skar. Die Festung war gigantisch, aber sie war auch ein Labyrinth aus Dutzenden unterschiedlich kleiner - aber eben allesamt kleiner - Innenhöfe und Räume, und sie konnten die Tiere nicht so schnell wegbringen, wie neue Truppen hereinstürmten. Außerdem hatten sie allenfalls Platz für zwanzigtausend Männer, aber nicht für zwanzigtausend Pferde, Er lief zurück zur Treppe, griff sich den erstbesten Mann, der ihm in die Quere kam, und deutete nach oben. »Lauf!« befahl er hastig. »Ruf ihnen zu, daß sie absitzen sollen. Die Tiere müssen draußen bleiben!«
Der Mann rannte los, und Skar lief zu Kiina und Del zurück. Er hatte Mühe, zu ihnen durchzudringen, denn der Hof begann sich mit rasender Geschwindigkeit zu füllen. Vorne am Tor entstand bereits das erste Gedränge, und der Einmarsch der Satai verlor allmählich an Schnelligkeit. Das Tor war groß, aber es war wie die gesamte Anlage der Burg dazu gedacht, Männer draußen zu halten, nicht, sie möglichst schnell hindurchzulassen. Skar war klar, daß der Durchbruch des Heeres noch lange nicht gelungen war.
Als er Del erreichte, zerrte dieser gerade einen Veden aus dem Sattel seines scheuenden Pferdes und schüttelte ihn wild. »Was ist in euch gefahren, Kerl?« brüllte er, außer sich vor Zorn. »Wer hat diesen Wahnsinnsbefehl gegeben?!«
Der Mann versuchte zu antworten, aber Dels Griff schnürte ihm die Luft ab. Del beutelte ihn noch ein paarmal, ließ ihn dann einfach fallen und fuhr mit einer wütenden Bewegung herum. Grob packte er einen zweiten Veden am Arm und riß ihn einfach aus dem Sattel.
»Wer ist euer Kommandant?« schrie er. »Wo ist er?«
»Torian, Herr«, antwortete der Vede verstört. »Er ist -«
»Torian?« Del ballte die Faust, als wolle er den Veden schlagen. »Ich übergab Garth der Hand den Befehl über dieses Heer.«
»Er ist tot, Herr«, antwortete der Vede stockend. »Er fiel beim ersten Angriff der Quorrl. Wir -«
»Beim Angriff der Quorrl?« mischte sich Skar ein. »Was soll das heißen?«