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»Was ist das?« wimmerte Torian. Del hatte ihn losgelassen, aber er rührte sich trotzdem nicht von der Stelle. Aus hervorquellenden Augen starrte er auf das grobmaschige, schwarze Netzgewebe, das Jamaßens Körper unter dem Gewand fast zur Gänze einhüllte. Hier und da waren die dünnen pulsierenden Fäden in seine Haut eingedrungen. Dunkelbraun verschorftes Blut bedeckte seine Brust. Jamaß' Blick wandte sich ihm zu, und plötzlich geschah etwas Entsetzliches: Jegliches Menschsein in seinen Augen erlosch. Sein Gesicht wurde zu einer verzerrten, abstoßenden Fratze, und etwas Schwarzes, Dünnes wie Hunderte beweglicher Spinnenbeine begann aus seinem Haar und seinem Kragen zu kriechen und es einzuhüllen. Ein grauenhafter, durch und durch unmenschlicher Ton drang aus seiner Brust, ein Laut, wie ihn Skar noch nie zuvor gehört hatte. Langsam, unendlich langsam, wie es Skar schien, hob er die Arme und deutete mit den gespreizten Fingern auf Skar und Torian.

»Zurück!« schrie Del mit überschnappender Stimme. »Raus hier!« Gleichzeitig warf er sich vor, riß Skar einfach mit sich zu Boden und rollte zwei-, drei-, viermal herum. Skar sah aus den Augenwinkeln heraus, wie Jamaß' Finger sich aufzublähen begannen wie ein zu sehr gefüllter Wasserschlauch und dann platzten. Etwas streifte sein Bein, versuchte sich daran festzuhalten und fiel ab, als Del ihn auf die Füße und zurück zerrte.

Torian hatte weniger Glück. Er stand wie erstarrt da und starrte das Etwas an, in das sich Jamaß verwandelt hatte, und er machte nicht einmal einen Versuch zu entkommen. Ein Wust schwarzer, peitschender Fäden schoß aus Jamaßens geborstenen Fingern, hüllte sein Gesicht und seine Brust ein und wickelte sich wie ein Netz um seine halb erhobenen Arme. Torian begann zu schreien und um sich zu schlagen, aber gegen das entsetzliche Ding in Jamaß hatte er keine Chance. Der Älteste torkelte auf ihn zu, wie eine betrunkene Puppe hin und her wankend, dabei eine Spur aus Blut und schwarzem Schleim hinter sich herziehend, erreichte den wild um sich Fuchtelnden und umfing ihn mit tödlicher Umarmung. Torians Schreie wurden spitzer und hatten jetzt kaum mehr etwas Menschliches an sich.

»Helft mir!« kreischte er. »Bei allen Göttern, Satai - so helft mir doch!!«

Skar machte eine Bewegung auf ihn zu, aber Del hielt ihn zurück. Langsam, mit zitternden Händen und weit aufgerissenen, fast glasigen Augen zog er den Dolch aus dem Gürtel, holte aus und schleuderte die Waffe mit aller Kraft. Der Vede bäumte sich noch einmal auf, als der Dolch in seinen Nacken drang, und erschlaffte dann plötzlich in Jamaß' Armen.

Skar schloß stöhnend die Augen. Er wußte, daß Del das einzig Mögliche getan hatte - Torian war verloren gewesen, im gleichen Moment, in dem ihn das Netz berührte, und alles, was ihm noch bevorgestanden hatte, wären ein Leben als willenlose Puppe und ein langer und vermutlich qualvoller Tod gewesen. Dels Messerwurf war im Grunde nichts anderes als barmherzig - so weit der Tod eines Menschen überhaupt barmherzig sein konnte. Aber das änderte nichts daran, daß sich Skar für einen Moment so elend fühlte, als hätte er selbst dem Veden die Kehle durchgeschnitten.

Erst als Del ihn schmerzhaft am Arm packte, fuhr er wieder hoch und begriff, daß noch lange nicht alles vorbei war. Ganz im Gegenteil - Del und er befanden sich in höchster Gefahr. Jamaß war von Torians zusammenbrechendem Körper zu Boden gerissen worden, starrte ihn und Del aber weiter voller Haß an. Helle, jaulende Laute kamen aus dem zerfransten Loch, in das sich sein Mund verwandelt hatte, und urplötzlich löste sich einer der dünnen Fäden von seinem Arm, schoß mit einem peitschenden Laut auf Del zu und verfehlte ihn nur um Zentimeter, um mit einem hellen Klatschen gegen die Wand zu prallen. Aber er fiel nicht herab, sondern fraß sich an dem rauhen Stein fest, und sogleich zuckten ein zweiter und dritter und vierter dünner schwarzer Spinnfaden aus Jamaßens auseinanderbrechendem Körper, jagten auf die Wand und die Decke zu und saugten sich fest. Binnen weniger Augenblicke verwandelte sich der Bereich vor der Tür in ein schwarzes, pulsierendes Netz, wie das Netz einer ungeheuerlichen Spinne, in deren Mitte Jamaß und der tote Vede hockten. Gleichzeitig begann Jamaßens Körper in sich zusammenzufallen, als verbrauche sich seine Substanz rasend schnell, um dieses fürchterliche Netz zu schaffen.

»Ihr Götter!« keuchte Del. »Was -«

Rückwärts gehend wichen sie vor der entsetzlichen Erscheinung zurück, bis sie die Treppe erreichten. Das Netz wuchs weiter, aber es schleuderte keine Fäden mehr in ihre Richtung, als spüre das Ding in Jamaß ganz instinktiv, daß sie nicht mehr in seiner Reichweite waren.

»Urcôun«, sagte Del plötzlich.

Skar sah ihn verwirrt an, blickte aber sofort wieder zu Jamaß und dem Netz herab. Es wuchs noch immer, im gleichen Tempo, in dem es Jamaßens Körper aufzehrte. »Was meinst du damit?« fragte er.

»Ich... ich weiß es jetzt«, stammelte Del. »Skar - ich weiß jetzt, wo ich so etwas schon einmal gesehen habe - es war in Urcôun, in der Flußhöhle unter dem wandernden Wald!« Er hatte recht. Skar erinnerte sich im gleichen Augenblick, in dem Del die Worte aussprach, und plötzlich wußte er auch, woher dieses beunruhigende Gefühl gekommen war, dies alles schon einmal erlebt zu haben, wenn auch in ganz anderer Art. Es war in Urcôun gewesen, in jener zyklopischen finsteren Felsenhöhle, in der alles begonnen hatte, vor so vielen Jahren. Es war größer gewesen, unendlich viel größer, und nicht so tödlich wie dieses hier, aber es war das gleiche, auf unbeschreibliche Art lebendige Netz gewesen wie jetzt.

Skar machte einen Schritt die Treppe hinauf, blieb stehen und streckte die Hand nach einer der Fackeln aus, die neben dem Treppenschacht brannten. Del hielt ihn zurück und wies mit einer Kopfbewegung nach vorne, nicht auf Jamaß, sondern auf den toten Veden, der zu seinen Füßen lag. Skar erkannte sofort, was er meinte.

Das Netz, das bereits einen Teil von Torians Körper eingesponnen gehabt hatte, begann zu zucken. Dünne peitschende Schlangenärmchen griffen haltlos in die leere Luft, erschlafften wieder oder schlugen plötzlich wie in Agonie um sich. Jamaß hob mit einem röchelnden Keuchen die Arme und versuchte, seine Hände von Torians Körper zu lösen. Plötzlich war Angst auf seinem entstellten Gesicht.

Er schaffte es nicht.

Del und Skar konnten sehen, wie das Netz starb, nur Augenblicke nach Torian. Die Fäden verfärbten sich, wurden grau statt schwarz und schrumpelten zusammen wie ausgedörrte Wurzelstrünke. Jamaß bäumte sich auf, versuchte von dem Toten wegzukommen, und riß schließlich seine rechte Hand los. Blut und ein Schwall klarer, glitzernder Flüssigkeit sprudelten aus dem zerborstenen Stumpf seiner Hand und besudelten den toten Veden, und Jamaß begann zu schreien. Das Netz, das Torian einhüllte, war jetzt fast vollkommen abgestorben, aber der unheimliche Prozeß ging weiter. Wie graue Tinte auf Löschpapier breitete sich die bleiche Farbe im Leib des Parasiten aus, griff plötzlich auch auf Jamaß über und tötete auch hier das Netz. Der Vede begann zu toben, bäumte sich auf und versuchte noch einmal, sich von Torian loszureißen. Aber seine Kraft reichte nicht.

»Sieh dir das an«, murmelte Del fassungslos. »Es ... es stirbt mit seinem Träger!«

»Ja. Aber es versucht zu überleben.« Skar deutete auf den Boden. Ein Teil des schwarzen Geflechtes hatte sich von Jamaß gelöst und kroch wie ein Teppich ineinanderverknäulter glitzernder Würmer auf ihn und Del zu, nur noch durch eine dünne Nabelschnur mit den beiden Veden verbunden. Skar faßte erneut nach der Fackel, aber Del schüttelte abermals den Kopf. Seine Hand kroch zum Gürtel, öffnete eine verborgene Tasche und kam mit einem kleinen, fünfzackigen Shuriken wieder zum Vorschein.

Er schleuderte die Waffe mit solcher Kraft, daß sie fast zur Hälfte in Jamaßens Schädel eindrang und ihn auf der Stelle tötete. Das Netz erschlaffte. Seine verzweifelten Bewegungen wurden fahrig, verloren ihre Kraft und Zielgerichtetheit und hörten schließlich ganz auf. Nach kaum einer Minute hatte sich auch der letzte Ausläufer des tödlichen Parasiten grau gefärbt und war tot. Trotzdem wagten sie es nicht, dem Netz auch nur nahe zu kommen, sondern traten über die Treppe ins erste Stockwerk hinaus und stiegen aus dem Fenster, um an der Außenmauer des Turms wieder hinabzuklettern.