Ganz langsam kam die vorderste Reihe der Quorrl näher. Skars Herz begann zu hämmern. Seine Handflächen wurden so feucht, daß er Mühe hatte, den Zügel zu halten, und plötzlich hatte er Angst, ganz entsetzliche Angst sogar. Die Bedrohung, die von den Quorrl ausging, war fast greifbar.
Als er sich den Kriegern bis auf zehn Schritte genähert hatte, teilte sich die lebende Mauer. Ein schmaler, von grün- und graugeschuppten Körpern gebildeter Korridor öffnete sich, durch den Skar und Kiina hindurchreiten konnten. Skar mußte sich nicht umdrehen, um zu wissen, daß er sich hinter ihnen wieder schloß. Er spürte, wie Kiina ihr Pferd dichter an das seine herandrängte. Er konnte ihre Angst fast riechen.
Sie ritten nicht sehr weit. Sie waren noch in Sichtweite der Burg, noch diesseits der ersten Wegbiegung, als sich der lebende Korridor vor ihnen verbreiterte, um einer zweiten, berittenen Gestalt Platz zu machen.
Obwohl Skar schon vorher gewußt hatte, wem er gegenüberstand, erkannte er Titch kaum wieder. Der Quorrl saß im Sattel eines Pferdes, gegen das selbst Skars Schlachtroß wie ein Pony wirkte. Er war von Kopf bis Fuß in schimmerndes Gold gehüllt, ebenso wie sein Pferd, trug Schwert, Schild, Lanze und Morgenstern, und der ungeheuerliche Panzer und all diese Waffen ließen ihn noch größer und bedrohlicher erscheinen, als er ohnehin schon war. Die Augen hinter dem »T« förmigen Sichtschlitz seines Helmes blickten kalt, ohne die mindeste Spur von Mitleid oder Verständnis, aber auch ohne Haß. Wenigstens redete sich Skar dies mit aller Macht ein.
Er ritt auf zwei Schritte an den Quorrl heran, zügelte sein Pferd und versuchte vergeblich, Titchs Blick ebenso gelassen standzuhalten, wie der Quorrl ihn ansah. Skar schauderte, als er die Kälte spürte, die von der Gestalt des gigantischen Schuppenkriegers ausging.
»Warum bist du gekommen, Mensch?« fragte Titch. Skar fuhr unmerklich zusammen, als er die Anrede hörte. »Um zu sterben?«
»Um zu leben«, antwortete Skar. »Wenn ich sterben wollte, wäre ich in der Burg geblieben.«
»Vielleicht wäre das klüger gewesen«, erwiderte Titch kalt. »Möglicherweise hättest du dort länger gelebt als hier. Was willst du? Um Gnade flehen?«
»Nein«, entgegnete Skar leise. »Um zu reden. Mit dir, Titch.« Titch starrte ihn an. »Reden?« Er schwieg einen Moment, lachte dann, ganz ganz leise. »O ja, reden«, wiederholte er. »So, wie du mit Trash geredet hast, wie? Es gibt nichts mehr zu reden zwischen uns, Mensch. Ihr habt geredet, gestern nacht. Dreitausend meiner Brüder liegen erschlagen unten am Fluß.«
»Und dreimal so viele werden sterben, wenn du diese Burg stürmen läßt!« gab ihm Skar erregt zu bedenken. »Titch, bitte hör mir zu. Laß mich nur einen Moment erklären!«
»Erklären?« Titch machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich will sie nicht hören, deine Erklärungen, Mensch. Ich will keine Worte mehr hören! Es waren Worte, die uns hierhergebracht haben! Worte, feine, geschliffene Worte, die uns glauben ließen, die alte Feindschaft zwischen euch und uns könnte begraben werden. Worte!« Er spie aus.
»Titch, wir sind nicht eure Feinde!« beschwor Skar ihn. »Dieser Angriff heute nacht war ein fürchterlicher Irrtum, glaube mir. Wir sind getäuscht worden, wir alle. Du und ich, und Del und... und auch die Männer, die euch angriffen. Sieh sie dir an!« Und damit zerrte er mit einem Ruck die Zeltplane herunter, die Torians verstümmelten Körper bisher verborgen hatte. Kiina schrie entsetzt auf und schlug die Hand vor den Mund, ehe sie erkannte, was darunter zum Vorschein kam, und auch einige der umstehenden Quorrl prallten erschrocken zurück. Skar drehte sich zur anderen Seite und riß auch die zweite Plane herunter. Aber die Reaktion, auf die er gehofft hatte, kam nicht. Titch blickte die grausige Fracht der beiden Tiere eine geraume Zeit schweigend an. Skar hätte seine rechte Hand darum gegeben, hätte er in diesem Moment gewußt, was hinter der goldenen Kampfmaske des Quorrl vorging.
»Wer ist das?« fragte Titch schließlich.
»Der Kommandant des Heeres«, antwortete Skar. »Und sein Berater. Sie waren es, die den Angriff auf euch befahlen. Torian wußte es nicht einmal besser. Er glaubte, von euch in eine Falle gelockt worden zu sein.«
»Ich weiß«, antwortete Titch.
Skar erstarrte. »Du... weißt?«
Der Quorrl deutete mit einer Handbewegung auf die beiden Toten. »Ich wußte nichts davon«, schränkte er ein. »Aber ich wußte, daß etwas geschehen war. Ich war drüben auf der anderen Seite des Flusses. Ich habe die toten Drachen gesehen. Und die Quorrl.«
»Aber dann... dann weißt du doch, daß es nicht unsere Schuld war!« sagte Skar. »Man hat uns getäuscht, Titch. Wir sind auf eine Kriegslist hereingefallen, die -«
»Was ändert das?« unterbrach ihn Titch. Skar starrte ihn fassungslos an, und Titch wiederholte noch einmaclass="underline" »Was ändert das, Mensch? Nichts. Es macht es eher noch schlimmer.«
»Aber ... aber verstehst du denn nicht?!« mischte sich Kiina ein. »Es war nicht -«
»Schweig, Menschenjunges!« donnerte Titch. »Es ändert nichts! Ihr glaubt, im Recht zu sein, nur weil es unsere Krieger waren, deren sich das Netz bediente? Ihr glaubt, es würde alles entschuldigen, nur weil ihr getäuscht worden seid?« Erregt beugte er sich im Sattel vor. »Verrate mir eines, Menschenjunges - wären es eure Leute gewesen, die euch getäuscht hätten, würdet ihr dann auch einfach den Angriff befohlen haben? Oder hättet ihr gefragt? Hättet ihr vielleicht einen Mann ausgeschickt, um festzustellen, was überhaupt passiert ist?«
Kiina wollte antworten, aber Skar machte eine rasche, beruhigende Geste. »Nicht, Kiina«, bat er. »Er hat recht.« Er wandte sich wieder an den Quorrl. »Das haben wir«, versicherte er. »Torian hat zehn Männer ausgeschickt. Keiner von ihnen hat die Burg erreicht.«
»Und das war dann genug«, antwortete Titch. Er lachte böse. »Belüg dich nicht selbst, Skar. Ihr hättet einen Weg gefunden, wären es Menschen gewesen, denen ihr mißtrautet. Aber es waren ja nur Quorrl. Es waren ja nur dumme Tiere, von denen ihr nichts anderes erwarten konntet, nicht wahr? Sie haben ja nichts anderes getan als das, worauf ihr sowieso gewartet habt!« Fast eine Minute lang sah Skar den Quorrl nur an. Dann senkte er fast beschämt den Kopf. »Du hast recht«, gestand er ein. »Es ... es tut mir leid.«
»O ja«, höhnte Titch. »Und damit vergessen wir alles, wie?« Er versetzte Torians Leichnam einen Fußtritt, der das Packpferd scheuen ließ. »Wir tun einfach so, als wäre nichts geschehen. Es war alles nur ein schrecklicher Irrtum, und es ist ja nichts passiert. Es sind ja nur ein paar tausend Quorrl gestorben, und die anderen reichen allemal, den Krieg für euch zu gewinnen.«
»Titch, bitte«, rief Skar beschwörend. »Ich verstehe deinen Schmerz, aber du ... du machst alles nur schlimmer.«
Titchs Wutausbruch verging so schnell, wie er gekommen war. Plötzlich blickten die Augen hinter dem schmalen »T« in seiner Maske wieder kalt und unbarmherzig wie Stahl.
»Vielleicht«, sagte er. »Aber vielleicht mache ich es auch nur wieder richtig, Mensch.«
»Es sind mehr von unseren Kriegern gestorben als von euren«, hielt Skar ihm entgegen. Verzweiflung machte sich in ihm breit. Er spürte, daß Titch nicht nachgeben würde. Und das allerschlimmste war vielleicht, daß er den Quorrl sogar verstand; irgendwie.
»Und es werden noch mehr sterben, bevor die Sonne das nächste Mal aufgeht«, antwortete Titch ruhig. »Reite zurück, Skar. Geh zurück zu deinen Freunden und richte ihnen aus, daß sie drei Stunden Zeit haben, sich auf den Kampf vorzubereiten. Ich erwarte euch unten am Fluß, wenn die Sonne im Zenit steht.«