»Du weißt, daß sie nicht kommen werden«, entgegnete Skar. »Dann kommen wir«, antwortete Titch hart. »Geh, Skar. Ich schenke dir das Leben, und diesem Menschenjungen an deiner Seite auch.« Er deutete auf Kiina. »Du kannst gehen, Mädchen aus Elay. Meine Krieger werden dich nicht behelligen. Geh zurück in deine Heimat. Du bist frei.«
»Ich bleibe bei Skar«, antwortete Kiina trotzig. Skar wußte, daß ihr diese Worte leid tun würden, aber er erwiderte nichts. Er fühlte sich nur noch leer und müde.
»Dann stirbst du mit ihm«, schloß Titch kalt. »Und jetzt geht. Reitet zurück in die Burg und sagt ihnen, daß die Quorrl kommen werden, um ihnen zu bringen, was sie von ihnen erwarten.«
22.
Nicht nur Del war sehr still geworden, nachdem Skar aufgehört hatte zu reden. Auch auf den Zügen der anderen Männer hatte sich zuerst Betroffenheit ausgebreitet, dann Zorn und schließlich Angst. Skars Blick glitt langsam über die Gesichter des Dutzend Männer, die sich zusammen mit ihm und Kiina in Dels Thronkammer eingefunden hatten, aber der Ausdruck, den er darin las, war überall gleich: Furcht, in der vielleicht hier und da noch ein wenig Entschlossenheit war, vielleicht auch nur Trotz. Aber die Furcht überwog. Nicht die Angst vor dem Tod, das wußte er. Jeder einzelne dieser Männer war ein Krieger wie er - die Veden ohnehin, und Del war umsichtig genug gewesen, zumindest das Kommando über das Heer nur mit wirklichen Satai zu besetzen; Männer, die wie Skar und er ihr Leben lang ausgebildet worden waren und denen der Kampf und auch der Tod nicht fremd waren.
Und trotzdem hatten sie jetzt Angst. So wie Del, so wie Kiina, so wie er selbst. Keine Angst vor dem Kampf und dem Tod, der einen Krieger früher oder später sowieso ereilte, sondern vor dem, was ihnen bevorstand. Ihnen und dem Rest Enwors. Skar hatte es nicht laut ausgesprochen, aber jeder einzelne Mann hier im Raum wußte, was Titchs Worte bedeuteten. Nicht weniger als den Sieg der Sternengeborenen, nicht weniger, als daß sie diesen Krieg verloren hatten, bevor er überhaupt richtig begann. Sie würden Ikne nicht nehmen, ganz gleich, wie diese Schlacht ausging. Sie würden die Herrschaft der Zauberpriester nicht brechen können. Der Angriff der Quorrl war nur der Anfang, dem die Apokalypse folgen mußte: Jahrhunderte, vielleicht eine Ewigkeit der Tyrannei, und vielleicht - auch dieser Gedanke war Skar voller Schrecken gekommen - vielleicht würde Enwor eine Welt gänzlich ohne Menschen werden, ein schwarzer Planet voller schwarzer kleiner Wesen ohne Gesicht und Gefühle. Jamaß hatte recht gehabt, mit seinem letzten Satz. Sie hatten diesen Kampf schon verloren gehabt, als sie ihn begonnen hatten. Er verscheuchte den Gedanken und konzentrierte sich wieder auf das, was am Tisch besprochen wurde. Del gab seinen Unterführern Anweisungen, welche die Verteidigung der Burg betrafen; so knapp und präzise und umfassend, daß Skar sich selbst die Mühe sparte, seine Befehle mit einem Nicken gutzuheißen. Er hätte es nicht besser machen können, ja, er war nicht einmal sicher, ob er es auch nur so gut wie Del getan hätte. Sie waren beide Männer des Schwertes, aber Del war viel mehr Krieger als er geworden. Seltsam - ihm war niemals so klar wie in diesem Augenblick gewesen, welch gewaltiger Unterschied zwischen den Worten Kampf und Krieg doch bestand. Einen Kampf konnte man gewinnen. Einen Krieg nur überleben.
Zeit verging. Die Hauptleute stellten Fragen, Del beantwortete sie. Erklärte. Korrigierte sich und änderte seinen Plan um, noch während er ihn entwickelte und aussprach. Skar hörte kaum zu. Die Fragen und Antworten umschwirrten ihn wie kleine lästige Fliegen, nach denen er geschlagen hätte, wären sie der Mühe nur wert gewesen. Alles war so sinnlos. Er nahm kaum wahr, wie die Männer hinausgingen. Erst als sich Del mit einer Frage an ihn wandte und Kiina ihn unsanft mit dem Ellbogen anstieß, schrak er wie aus einem Traum hoch und sah ihn einen Moment lang verständnislos an. »Was?«
»Ich habe gefragt, ob du noch irgendwelche Einwände oder Vorschläge hast«, wiederholte Del. »Aber mir scheint, du hast gar nicht zugehört.«
»Nein«, gestand Skar nach kurzem Zögern. »Verzeih. Ich ... war mit meinen Gedanken woanders.«
»Bei Titch?«
Skar nickte, und Del wirkte mit einem Male sehr, sehr ernst. »Ich verstehe ihn nicht«, sagte er kopfschüttelnd. »Ich kenne Titch seit Jahren, und ich ... ich hatte immer das Gefühl, er wäre ein vernünftiger Mann.« Er versuchte zu lachen, aber es mißlang. »Weißt du, daß ich ihn eine Weile fast wie einen Menschen betrachtet habe? Und jetzt das.«
»Vielleicht gerade darum«, antwortete Skar. Del sah ihn fragend und offenkundig verwirrt an. »Vielleicht ist er schon zu sehr Mensch, und nicht mehr genug Quorrl«, fuhr Skar fort, und er meinte diese Worte ganz genau so, wie er sie aussprach. »Ich habe mich lange mit Titch unterhalten, gestern, unten an den Felsen. Er ist... anders. Anders als alle anderen Quorrl, die ich je getroffen habe.«
»Ja«, ergänzte Del zornig. »Noch ein bißchen verrückter.«
»Nein«, erwiderte Skar, lächelte dann und verbesserte sich: »Oder vielleicht doch. Er ist fast so verrückt wie wir, weißt du? Dieser Quorrl ist stolz. Stolz auf das, was er ist, und stolz auf sein Volk. Wenn du das verrückt nennen willst, bitte.«
»Und deshalb will er uns und die Hälfte seines Heeres umbringen?« fragte Del verwundert. »Irgendwie kapiere ich deine Argumente nicht, Skar.«
Skar antwortete nicht mehr. Del hätte ihn nicht verstanden, und wenn er noch Stunden geredet hätte. Und er konnte es auch nicht wirklich ausdrücken. Das Wissen um die Gründe für Titchs Handeln war in ihm, aber es war nur ein Gefühl, das sich nicht in Worte kleiden ließ. Titch war anders als die anderen Quorrl, und Skar glaubte zu wissen, daß er früher oder später sowieso zerbrochen wäre; allein unter dem Gedanken, vierzigtausend seiner Brüder in den sicheren Tod führen zu müssen. Kein Wesen, das auch nur einen Deut von Gefühlen in sich barg, konnte mit diesem Gedanken leben. Nein - Titch handelte nicht einmal falsch, von seiner Warte aus. Er rückte die Dinge nur wieder zurecht.
Del stand auf, als klar wurde, daß Skar nicht antworten würde. »Ich will mich nicht mit dir streiten«, schloß er, in einem Ton, der keinerlei Vorwurf enthielt. »Wir haben noch eine Stunde, wenn Titch sein Wort hält. Ich erwarte dich draußen auf der Mauer.«
Er ging. Skar blickte ihm nach, auch als er die Tür schon lange hinter sich zugezogen hatte, und stützte schwer das Kinn auf die gefalteten Hände. Ihm war kalt, obwohl das Feuer im Kamin hoch brannte. Sein Blick suchte Kiinas. Sie erwiderte ihn, mit der Andeutung eines Lächelns in den Augen, aber auch mit sehr großer Angst.
»Du hättest Titchs Angebot annehmen und dich retten sollen«, sagte er plötzlich.
»Mich retten? Wie?«
»Du hättest gehen können«, antwortete Skar. »Dich verstecken, irgendwo, und warten, bis das alles hier vorüber ist.«
»Mich verstecken«, wiederholte Kiina, in einer Art, als müsse sie erst nachdenken, was dieses Wort überhaupt bedeutete. »Und wo?« fragte sie dann. »Es wird kein irgendwo mehr geben, Skar, und nichts, auf das sich zu warten lohnte.«
»Unsinn.« Skars Protest klang müde, fast resignierend. »Enwor ist groß, und wir kennen es nicht einmal ganz. Es wird Jahrhunderte dauern, bis sie es ganz erobert haben. Wenn es ihnen überhaupt jemals gelingt. Du hättest irgendwo in Ruhe leben können.«
»Vielleicht wollte ich das aber nicht«, antwortete Kiina ernst. »Du hast nicht gesehen, was ich gesehen habe, Skar. Du warst nicht in Elay, Aber ich. Ich habe gesehen, was sie aus dieser Welt machen werden. Nichts, wofür sich zu überleben lohnte.« Sie stand auf, trat ans Fenster und tat so, als schaue sie hinaus, aber in Wahrheit ging ihr Blick ins Leere.