Del ließ den Mann so abrupt los, daß er mitten im Wort abbrach und sich seinen Atem lieber dafür aufsparte, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ohne ihn weiter zu beachten, fuhr Del herum, eilte zur Tür und riß sie auf. Skar konnte niemanden draußen auf dem Gang erkennen, aber Del schrie plötzlich so laut, daß seine Worte vermutlich noch unten auf dem Hof zu verstehen waren. »Laßt die Garde aufsitzen!« brüllte er mit vollem Stimmaufwand. »Und sattelt mein und Skars Pferd! Du begleitest mich doch, oder?« Den letzten Satz, den er zwar nicht mehr gebrüllt, aber immer noch sehr laut gesprochen hatte, richtete er an Skar.
Skar antwortete gar nicht. Aber weniger als fünf Minuten später verließen sie die Trutzburg bereits, begleitet von einem halben Hundert Satai und der dreifachen Anzahl Quorrl.
2.
Es war nicht ein Drache; es waren vier - ein riesiges, langbeiniges, grünes Etwas, in dessen Nacken eine absurd kleine Gestalt hockte und sich mit Armen und Beinen festklammerte, und drei etwas kleinere, aber sehr viel massigere Echsenwesen, die das erste verfolgten, und in der Luft, eine halbe Meile über und zwei oder drei vor Skar und der kleinen Armee aus Satai und Quorrl, schwebten die dreieckigen Schatten zweier gewaltiger Daktylen, von denen mindestens eine einen Reiter trug. Die andere war zu hoch und bewegte sich zu schnell, als daß Skar sie deutlich erkennen konnte. Zweimal, seit sie den Felsgrat erreicht und angehalten hatten, war die Daktyle auf den flüchtenden Drachen heruntergestoßen, und jedesmal hatte die Gestalt in seinem Nacken die Hand gehoben, und ein fadendünner weißer Blitz hatte nach dem Drachenvogel geschlagen und ihn zurückgetrieben. »Was zum Teufel geht dort vor?« murmelte Del neben ihm. Sein Pferd bewegte sich unruhig. Wie das Skars und die der anderen witterte es die Drachen, und wie fast alle Warmblüter machte es die Nähe der titanischen Echsenwesen rasend. Seine Hufe scharrten nervös in der dünnen Schneedecke, die den Fels hier oben bedeckte.
»Sie kämpfen.« Del beugte sich im Sattel vor und verengte die Augen zu schmalen Schlitzen, um mehr Einzelheiten erkennen zu können. Das grelle Licht der Morgensonne verwandelte sein Gesicht in eine Landschaft aus zerschrundenen Schatten und harten Linien, die Skar noch nie zuvor darin gesehen hatte. Zum allerersten Mal, seit sie sich wiedergesehen hatten, kam ihm Del so alt vor, wie er war. Skar schauderte. Es war nicht gut, die Zeit zu betrügen, dachte er. Er war plötzlich nicht einmal sicher, ob er dieses neue Leben überhaupt leben wollte.
»Drachen verfolgen Drachen!« Del schüttelte den Kopf, setzte sich wieder im Sattel auf und blickte ihn fast bestürzt an. »Was, verdammt noch mal, bedeutet das?!«
»Das finden wir bestimmt nicht heraus, wenn wir hier stehenbleiben und nur zusehen«, antwortete Skar.
Die Reaktion auf seine Worte war anders, als er erhofft hatte - Del nickte zwar, ganz automatisch und ohne ihn anzuschauen, aber weder er noch einer seiner Begleiter machten irgendwelche Anstalten, die Pferde anzutreiben und den Steilhang hinunterzureiten. Ein rasches, heftiges Gefühl von Zorn machte sich in Skar breit.
»Was ist los?« fragte er. »Worauf warten wir?«
»Es sind Drachen, Herr«, antwortete einer der Männer neben Del. »Und sie haben Scanner.«
Wie, um seine Worte zu bestätigen, züngelte in diesem Moment wieder ein dünner, grausam weißer Blitz aus der Hand der winzigen Gestalt im Nacken des flüchtenden Drachen und brannte eine Narbe aus grellem Licht in den Himmel. Skars Zorn verstärkte sich zu reiner Wut, aber da war auch ein Gefühl von ... ja, beinahe Entsetzen, auf jeden Fall aber Erschrecken. Es war ein Satai, der diese Worte gesprochen hatte, und sie waren fast zweihundert!
Einen Moment lang starrte er den Mann voller unverhohlener Verachtung an, dann riß er sein Pferd ohne ein weiteres Wort herum und galoppierte los. Del rief ihm irgend etwas nach, das er nicht verstand, und er hörte, wie sich nun auch die anderen in Bewegung setzten, aber er sah sich nicht einmal um. Tief über den Hals seines Pferdes gebeugt, jagte er an der Felskante entlang, schlug einen engen, sehr riskanten Bogen um ein eisverkrustetes Stück Fels und preschte schließlich den schneebedeckten Hang hinunter, der sich dem Felsabbruch anschloß.
Für Minuten verlor er den grünen Drachen und seine Verfolger aus den Augen, denn er mußte seine ganze Konzentration dazu aufwenden, nicht aus dem Sattel geschleudert zu werden oder mitsamt dem Pferd zu stürzen. Der Hang war sehr steil, und die dünne Decke aus Pulverschnee verlieh ihm ein trügerisch falsches Aussehen: Unter dem flockigen Weiß verbargen sich Steine und Erdspalten und das Geäst erfrorener Büsche, die sein Pferd mehr als einmal zum Straucheln brachten. Der Hang war so steil, daß das Tier gegen seinen Willen immer schneller wurde. Der Augenblick war abzusehen, an dem es einfach so schnell wurde, daß es seine Bewegungen nicht mehr koordinieren konnte und über seine eigenen Beine stolperte, oder in eine der zahllosen Fallen unter dem Schnee trat und sich ein Bein brach.
Skar verschwendete kaum einen Gedanken daran. Er raste innerlich vor Zorn. Das Zögern des Satai (Satai? Etwas in ihm sträubte sich selbst dagegen, dieses Wort auf den Mann an Dels Seite anzuwenden, und wenn er tausendmal den fünfzackigen Stern der Kriegerkaste auf der Stirn trug!) hatte etwas in ihm zum Überkochen gebracht. Was er in seinen Augen gelesen hatte, war Angst, ein Gefühl, auf das er ein Recht hatte wie jeder Mensch, aber nicht in diesem Moment und nicht so, und dieser Ausdruck hatte das letzte bißchen Verbundenheit zerstört, das er noch zu Dels Männern empfunden hatte. Das Gefühl tat weh, entsetzlich weh, aber es kam nicht einmal unerwartet, und obwohl sich etwas in ihm wie ein getretener Wurm krümmte, ohne diesem entsetzlichen Schmerz dadurch irgendwie entgehen zu können, funktionierte ein anderer Teil seines Denkens gleichzeitig mit fast phantastischer Klarheit: Der Satai in ihm war erwacht, und er fragte ihn spöttisch, was um alles in der Welt er allein und so gut wie unbewaffnet gegen drei Drachen ausrichten wollte, und ob er denn sicher war, daß er sich auf der richtigen Seite in diesen Kampf einmischte, und wer dieser Reiter war, der da auf sie zufloh, und warum.
Er fand auf keine dieser Fragen eine Antwort, aber er zögerte trotzdem keine Sekunde, sondern trieb das Pferd eher noch zu größerer Eile an, als sie die Ebene erreichten und sich der Schwung ihres rasenden Hangrittes allmählich aufzehrte. Flüchtig blickte er über die Schulter zurück. Dels Satai waren ihm gefolgt, aber er hatte einen Vorsprung von gut drei-, vielleicht sogar vierhundert Pferdelängen, und er wuchs noch beständig, denn die Männer in den schwarzen Mänteln ritten nicht halb so selbstmörderisch, wie er es getan hatte. Zudem hatte sich das Heer geteilt, denn die Quorrl waren noch weiter zurückgefallen, was in ihrem Falle aber wohl eher an ihrem Gewicht und ihrer Klobigkeit lag, die sie ein Pferd schon in normalem Gelände kaum halb so schnell reiten ließen wie ein Mensch. Er suchte nach Del, aber er fand ihn nicht. Seltsamerweise verspürte er nicht einmal mehr wirkliche Enttäuschung. Der Moment, in dem sie Seite an Seite in einen Kampf vorwärts stürmten, würde nicht mehr kommen. Er war ein Kindertraum, und sie waren beide keine Kinder mehr.
Er wandte sich wieder um und sah nach vorne. Die Sonne war im Laufe der letzten halben Stunde auch über die Berge geklettert, und ihre schräg einfallenden Strahlen ließen die Schneedecke über der Ebene in blendendem Weiß aufleuchten, so daß er im ersten Moment fast geblendet war. Aber dann erblickte er sie - ein Stück weiter nördlich und eine gute Meile näher, als er erwartet hatte: der riesige grüne Drache und die drei kleineren grauen Verfolger, die sich in fast irrwitzigem Tempo den Bergen näherten. Der Reiter auf dem flüchtenden Drachen mußte wahnsinnig sein, dachte Skar, oder schlichtweg blind vor Angst. Drachen waren unglaublich schnelle Läufer, aber miserable Kletterer. Spätestens am Fuße des Steilhanges wäre seine Flucht so oder so zu Ende gewesen.