»Haben wir eine Chance?« flüsterte sie.
»Gegen Titch?« Skar schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er überzeugt.
»Und trotzdem hat Del einen Plan ausgearbeitet, diese Festung zu verteidigen«, wunderte sich Kiina kopfschüttelnd. Sie drehte sich herum, legte den Kopf gegen das kalte bunte Glas des Fensters und sah ihn einen Moment lang fast verwirrt an, ehe sie die Augen schloß. »Er ist gut, nicht?«
»Dels Plan? Ja, er ist gut. Der beste, den ich je gehört habe.« Er lachte, ganz leise und bitter. »Titch wird gewinnen, aber es werden nicht viele von seinen Brüdern übrigbleiben, um den Sieg mit ihm zu feiern.«
»Was für ein Wahnsinn«, murmelte Kiina. »Wir wissen, daß wir sterben werden, aber wir versuchen alles, so viele wie möglich von ihnen zu töten, vorher. Wer hat etwas von diesem sinnlosen Morden?«
»Wer hat überhaupt jemals etwas davon gehabt, Kiina?« gab Skar zurück. »Was willst du tun? Den Männern vorschlagen, ihre Waffen niederzulegen und sich den Quorrl auszuliefern?« Er schüttelte den Kopf. »Es ist nun einmal unsere Art, uns zu wehren, wenn wir angegriffen werden. Auch, wenn es sinnlos ist.«
»Was für ein Wahnsinn«, wiederholte Kiina noch einmal. »Ja«, bestätigte Skar. »Was für ein Wahnsinn.«
23.
Der Angriff der Quorrl begann pünktlich auf die Minute. Titch hatte sein Heer zum Ufer des Flusses zurückgezogen, wie er es Skar zugesagt hatte, und schon eine Stunde zuvor hatten sich die Quorrl in Schlachtformation aufgestellt; vier hintereinandergestaffelte, immer um das Doppelte größer werdende Blöcke aus gepanzerten grünen Leibern, die reglos auf einen Gegner warteten, der nicht kam. Titch wußte es, und wahrscheinlich wußte es auch jeder einzelne Mann seines Heeres, aber die Quorrl hielten Wort. Bis zur Mittagsstunde rührte sich nichts dort unten im Tal, und Titch hatte sogar die Krieger zurückgerufen, die das Tor und den Weg belagerten, so daß Del Männer ausschicken konnte, die das Schlachtfeld nach Verwundeten absuchten und sie in die Festung trugen; nur ein kleiner Kundschaftertrupp war zurückgeblieben, der aber keinen Versuch machte, Dels Satai an ihrem Tun zu hindern. Die Ruhe, die sich über dem Flußufer und der Burg ausbreitete, war fast unheimlich.
Aber die Sonne hatte ihren höchsten Stand kaum erreicht, als sich das Rechteckmuster aus Quorrl unten am Fluß änderte. Skar, der neben Del und zweien ihrer Hauptleute auf der Mauer über dem Tor stand, dem Punkt, an dem der erste und wuchtigste Angriff der Quorrl zu erwarten war, hörte weder ein Trompetensignal, noch sah er irgend etwas - aber die ungeheuerliche Heeresmasse dort unten geriet von einer Sekunde zur anderen in rasend schnelle, kochende Bewegung. Aus dem ersten der vier gewaltigen Quader wurde ein langer, pulsierender Wurm, einer stachelgespickten grünen Schlange gleich, die sich mit täuschender Langsamkeit auf den Berg und den Beginn des Serpentinenweges zuwälzte. Zehn Minuten, schätzte Skar. Die Quorrl rannten, so schnell sie konnten. Wenn sie dieses Tempo beibehielten, würden sie das Tor in zehn Minuten erreicht haben.
Er hob die Hand und winkte den Bogenschützen zu, die sich beiderseits des Weges auf den Felsen postiert hatten; gleichzeitig gab Del ein anderes Zeichen, und überall hinter der Brüstung glommen die kleinen Kohlenfeuer heller auf. Sie mußten sparsam sein, mit allem. Kohle und Holz waren knapp. Sie hatten die Pechkessel nur so sehr befeuert, daß ihr Inhalt gerade noch flüssig blieb. Aber zehn Minuten würden reichen, den Quorrl einen heißen Empfang zu bereiten, im wahrsten Sinne des Wortes. Sie warteten. Der Kopf der grünen Schlange aus Quorrl kam außer Sicht, als die Krieger um die erste Wegbiegung verschwanden, und Skar glaubte, ein dumpfes Dröhnen zu hören: die Schreie aus Tausenden und Tausenden und Tausenden rauher Quorrl-Kehlen. Nervös, aber trotzdem äußerlich ruhig, sah er sich um. Sie hatten etwa fünfhundert Mann auf der Mauer zusammengezogen, ein Nichts gegen die Lawine aus Quorrl, die sich auf die Burg zubewegte, aber trotzdem schon fast mehr, als der Wehrgang zu fassen vermochte. Alle zehn oder zwölf Schritte erhoben sich schwarze Pechkessel, unter denen die Feuer jetzt heller und heller loderten. Pfeile, Bolzen und Lanzen standen in sorgsam aufgereihten Bündeln an der Wand, bereit, auf die Angreifer hinabgeschleudert zu werden. Es war sehr still. Kaum jemand sprach. Sein Blick wanderte weiter, tastete über den Hof, den Dels Männer in den letzten drei Stunden in ein Labyrinth von Fallen verwandelt hatten, und glitt weiter über die Leitern und Stricke, die zur nächsten, höher gelegenen Mauer hinaufführten, dem zweiten von insgesamt fünf Wällen, die den Ansturm der Quorrl brechen sollten. Es waren nicht sehr viele Leitern. Aber es würden auch nicht sehr viele Männer sein, die sie benutzten. Aus dem Hof drang das rasende Schlagen großer Hämmer herauf, und der Lärm der Sägen. Skar hoffte inständig, daß den Männern Zeit genug blieb, ihre Arbeit zu beenden. Ihr ganzer Plan beruhte darauf, dem Ansturm der Quorrl schon an dieser ersten Mauer genug Schwung zu nehmen.
»Sie kommen«, rief Del.
Skar fuhr herum, blickte einen Moment lang auf den Weg hinab und nickte dann. Er konnte die Quorrl noch nicht sehen, aber er hörte sie - und vor allem: Er spürte sie. In den Chor gutturaler Schreie hatte sich ein dumpfes Dröhnen und Hallen gemischt, und Skar war jetzt sicher, sich das Zittern der Mauer unter seinen Füßen nicht einzubilden. Die Erde begann unter dem Stampfen der Quorrl zu zittern. Sie werden uns einfach überrennen, dachte er fast hysterisch. Ihr Götter, sie werden einfach durch die Mauer hindurchbrechen!
Natürlich war das Unsinn, und der logische Teil seines Denkens wußte das auch. Aber Logik nutzte ihm nicht mehr viel, in diesem Moment. Wie fast immer, wenn er sich auf einen Kampf vorbereitete, war Skars Denken und Fühlen seltsam zweigeteilt - auf der einen Seite war er nur noch Satai, kaum noch Mensch, sondern ein Krieger, der sein Handwerk perfekt beherrschte und für den all das, was kommen mochte, eine eher intellektuelle Herausforderung war als alles andere. Ein anderer Teil seines Denkens bestand aus Angst, und das war neu. Del stülpte seinen Helm über, befestigte den Kinnriemen mit übertriebener Sorgfalt und überzeugte sich pedantisch vom festen Sitz des Visiers, ehe er daranging, die schweren, metallverstärkten Handschuhe überzustreifen. In der gewaltigen Rüstung sah er fast so finster und bedrohlich aus wie Titch, dachte Skar, und nicht einmal sehr viel kleiner. Statt des Tschekals, das in seinem Gürtel hing, hatte er sich mit einem gewaltigen Zweihänder ausgestattet, einer Waffe mit fast mannslanger Klinge, die nur ein Riese wie er wirklich führen konnte.
Skar selbst hatte auf jeglichen Schutz verzichtet, mit Ausnahme des schwarzen, eng anliegenden Harnisches aus steinhartem Leder und eines eisernen Unterarmschutzes, den er anstelle eines Schildes am linken Arm trug. Seine Hand glitt über den rubingeschmückten Griff des Tschekal an seiner Seite, während er sich wieder der Brüstung zuwandte und auf den Weg hinabsah. Er dachte an Kiina. Von allem war vielleicht der Gedanke, sie niemals wiederzusehen, der schlimmste. Er fragte sich, ob er dieses Mädchen liebte - nicht wie ein Mann eine Frau, sondern wie ein Vater seine Tochter. Er fragte sich, ob sie seine Tochter war. Sie kamen.
Die Schatten an der unteren Biegung des Weges wurden lebendig, und plötzlich waren die Quorrl da, Hunderte, Tausende, Hunderttausende, wie es ihm schien.
Del riß den Arm in die Höhe, und eine Sekunde später begannen die Bogenschützen oben auf den Felsen zu schießen. Sie waren zu weit entfernt, als daß sie Einzelheiten erkennen konnten, aber Skar sah die Wirkung ihres verzweifelten Pfeilregens - mehr und mehr Quorrl taumelten, stürzten zu Boden oder wurden von ihren nachdrängenden Kameraden einfach niedergetrampelt. Sie hatten hundert Mann auf den Felsen postiert, hundert Freiwillige, von denen jeder einzelne gewußt hatte, daß er nicht zurückkehren würde, und schon ihre allererste Salve forderte einen ungeheuerlichen Blutzoll von den heranstürmenden Quorrl. Fast jeder einzelne Pfeil traf sein Ziel, denn die Quorrl stürmten so dichtgedrängt heran, daß ein Vorbeischießen kaum möglich war, und die Männer schossen schnell und ohne Pause. Aber für jeden Quorrl, der getroffen zu Boden sank, schienen zehn neue heranzurennen. Sie fielen, wurden umgerissen oder von den Nachfolgenden einfach in den Boden gestampft, und der Kopf des gewaltigen Heerwurmes raste weiter. Wahnsinn! dachte Skar. Das ist Wahnsinn! Sie kämpfen nicht! Sie stürmen einfach vor! Die Quorrl machten sich nicht einmal die Mühe, sich unter ihre Schilde zu ducken, sondern rannten blind in den tödlichen Hagel aus Pfeilen und Armbrustbolzen hinein.