Skar ließ erschöpft sein Schwert sinken, stützte sich einen Moment schwer auf den rubingeschmückten Griff der Klinge und schloß die Augen. Ihm wurde schwindelig. Mit einem Male spürte er all die kleinen und größeren Verwundungen, die er davongetragen hatte. Die Festung begann sich um ihn herum zu drehen.
Er drängte den Schwächeanfall mit Macht zurück, taumelte zur Mauer und blickte in die Tiefe. Nichts bewegte sich mehr dort unten. Ein paar verletzte Quorrl versuchten von den Mauern wegzukriegen, hier und da brannte es noch; Schreie wehten zu ihm herauf, seltsam dünn und unwirklich in der rauchgeschwängerten Luft, aber der Angriff war vorüber. Es gab niemanden mehr, der die Leitern hätte hinaufstürmen können. Die Quorrl hatten die Festung bis auf den letzten Mann berannt.
»Alles in Ordnung mit dir?«
Skar drehte sich herum, nickte automatisch und schrak sichtlich zusammen, als er Del erkannte. Der Satai taumelte vor Schwäche, wie er selbst, aber er wirkte in seiner blutbesudelten Rüstung noch immer wie ein Alptraumwesen, der Gott einer blutigen Vision ohne Handlung, ohne Sinn, die nur aus Gewalt und sinnlosem Töten bestand.
»Nein«, sagte er schweratmend. »Das ist Wahnsinn, Del. Wir müssen ... den Kampf abbrechen.«
Del antwortete gar nicht. Sie wußten beide, daß dies nicht mehr in ihrer Macht stand, daß dieser apokalyptische Kampf nicht einmal das Vorspiel zu dem gewesen war, was kommen würde. Es waren drei- oder viertausend Quorrl gewesen, die sie angegriffen hatten. Die nächste Gruppe würde doppelt so groß sein. Und eine Verteidigung gab es praktisch nicht mehr. Nur einer von fünf Männern, die mit ihnen hier heraufgekommen waren, lebte noch. Die Pechkessel waren geleert oder umgeworfen, und die Bogenschützen draußen auf den Felsen hatten längst aufgehört zu schießen. Wahnsinn, dachte Skar. Das ist Wahnsinn! Wir sind Verbündete, und wir bekämpfen einander!
Und für einen Moment, einen ganz kurzen Moment, zu flüchtig, als daß er sicher sein konnte, daß es wirklich geschehen war, glaubte er, ein tiefes, dunkles Lachen in sich zu hören und einen Schatten zu sehen, den Umriß von etwas Kleinem, Schwarzem, Gesichtslosem, das ihn anstarrte.
»Sie kommen«, rief Del.
Skar drehte sich müde herum und sah in die Richtung, in die seine ausgestreckte Hand wies. Die zweite Welle der Quorrl stürmte den Weg hinauf. Sie würden nicht einmal Zeit haben, die Toten vom Wehrgang herunterzuschaffen; geschweige denn, so etwas wie eine neue Verteidigung zu organisieren. Del hob die Hand und machte eine befehlende Geste nach oben, zur zweiten Mauer hin. Auf den Leitern erschienen Männer, große, klobige Krüge und prall gefüllte Schläuche mit sich schleppend, die sie in regelmäßigen Abständen auf der Mauer zu verteilen begannen. Andere versuchten, die Verwundeten zu bergen, die zwischen den Toten lagen, aber Skar wußte, daß sie es nicht schaffen würden. Nicht alle.
Besorgt sah er den näherkommenden Quorrl entgegen. Der Ansturm dieser zweiten Gruppe war etwas weniger schnell. Hinter der ersten, zehnfach gestaffelten Kampfreihe bewegte sich ein Trupp von gut hundert Quorrl, der eine geradezu gigantische Ramme mit sich führte; einen gut hundert Fuß langen, mehr als mannsdicken Baumstamm, mit großen Streifen aus Stahl verstärkt und einem bronzenen Drachenschädel an einem Ende, der das Tor durchstoßen mußte wie ein Blatt Papier. Auch sie würden sterben, dachte Skar. Und es war so sinnlos.
»Schnell jetzt«, befahl Del. »Zurück.«
Skar gehorchte. So schnell sie konnten, liefen sie zum Ende der Mauer zurück und begannen, die Leiter hinaufzusteigen, die zum zweiten, nächsthöher gelegenen Verteidigungswall hinaufführte, gefolgt von den Überlebenden des Kampfes, die noch aus eigener Kraft gehen konnten, und anderen, die von ihren Kameraden gestützt werden mußten.
Sie schafften es nicht alle. Das Tor erbebte unter dem ersten, ungeheuerlichen Anprall von Titchs Riesenramme, kaum daß Skar die Mauerkrone überstiegen hatte, und als er sich umdrehte und in den Hof hinabblickte, sah er, daß schon dieser erste Treffer genügt hatte, einen der dreißig Fuß hohen Bronzeflügel in voller Länge zu spalten. Über der Mauerkrone erschienen neue Leitern und Sturmbalken.
»Schießt!« befahl Del.
Bogensehnen sirrten. Die Luft über dem Hof war plötzlich erfüllt von Funken und langen, auseinandergerissenen Rauchfahnen, und dann glomm ein kleines, böses weißes Licht auf dem Wehrgang auf, dort, wo die Krieger einen der ölgefüllten Säcke abgelegt hatten, wuchs zu einer brüllenden Flamme heran und explodierte. Skar schloß geblendet die Augen, als mehr und mehr Pfeile ihr Ziel trafen. Die Mauerkrone verwandelte sich in eine einzige, brüllende Barriere aus weißglühendem Feuer und unablässig aufzuckenden Explosionen. Die Hitze war selbst hier oben fast unerträglich, und das Licht grausam. Nur verschwommen nahm er wahr, wie das Tor unter dem zweiten Anprall der Ramme auseinanderbrach und nach innen stürzte.
Die Quorrl stürmten den Hof. Von der Mauerkrone floß brennendes Öl auf sie herab, und auch zwischen ihnen glommen plötzlich die weißen und orangeroten Feuerbälle immer neuer Explosionen auf, als Dels Bogenschützen ihr Feuer auf den Hof verlagerten und auf die großen Ölkrüge, die sie dort unten aufgestellt hatten. Aber Titchs Krieger stürmten einfach weiter. Es war, dachte Skar schaudernd, als wollten sie das Feuer einfach mit ihren Leibern ersticken. Tief unter ihm erreichten die Krieger mit der inzwischen lichterloh brennenden Ramme das innere Tor und versuchten es aufzusprengen.
»JETZT!« schrie Del, so laut er konnte. »Die Mauer!«
Zum dritten Mal begannen die Bogensehnen zu sirren. Ein ganzer Hagel brennender Pfeile regnete auf den Hof hinab und klatschte in den schmalen, ölgefüllten Graben, den die Männer vor der äußeren Mauer ausgehoben hatten.
Es ging rasend schnell. Zu der weißglühenden Feuerlinie auf der Mauerkrone gesellte sich eine zweite, die an ihrem Fuß nagte. Die Stützbalken, die anstelle des herausgebrochenen Mauerwerkes eingesetzt worden waren, fingen Feuer und verbrannten wie Stroh, wurden schwarz, zerbrachen unter dem Gewicht der auf ihnen lastenden Felsmassen. Die Mauer begann zu wanken. Tonnenschwere Steinbrocken brachen aus ihrer Krone und stürzten in den Hof hinab, und plötzlich begann die gesamte Wand zu zucken, schien sich wie ein lebendes Wesen zu winden und hin und her zu werfen, wie um sich noch einmal mit letzter Kraft gegen das Unvermeidliche zu wehren - und neigte sich nach innen. Sie begrub den Hof, die Flammen und jedes lebende Wesen, das sich noch dazwischen bewegt hatte, unter sich.