24.
Das Feuer brannte eine Stunde, und für genau diese Zeitspanne kam auch der Angriff der Quorrl ins Stocken, denn die Hitze unten im Hof war so gewaltig, daß selbst die Verteidiger hinter der Brüstung der zwanzig Meter höher gelegenen Mauer zurückgetrieben wurden. Sie nutzten die Atempause, um ihre Kräfte zu regenerieren und sich neu zu formieren - die Verletzten wurden weggebracht oder an Ort und Stelle versorgt, soweit sie nur leichte Wunden davongetragen hatten, verschossene Pfeile ersetzt, zerbrochene Schwerter gegen neue ausgetauscht. Obwohl sie schreckliche Verluste erlitten hatten, war bisher doch nur ein kleiner Teil des gewaltigen Heeres unmittelbar in die Kämpfe verwickelt worden, und unter den Kriegern begann sich so etwas wie vorsichtiger Optimismus breit zu machen. Skar schätzte, daß sie bisher nicht mehr als drei-, vielleicht vierhundert Mann verloren hatten; vierhundert Mann zu viel, aber ein Nichts gegen den Blutzoll, den sie Titchs Kriegern abverlangt hatten. Für jeden erschlagenen Satai lagen zehn tote Quorrl unter den Trümmern des brennenden Hofes, und doppelt so viele waren verletzt und hatten sich zurückziehen müssen.
Aber Skar wußte auch, wie sehr der kurze Triumph täuschte und wie teuer er erkauft worden war. Die Quorrl würden kein zweites Mal in eine Falle wie diese tappen; ganz davon abgesehen, daß sie gar nicht die Möglichkeit hatten, sie noch einmal aufzubauen - das Vorkastell war außer den Türmen der einzige wirklich gebaute Teil der titanischen Trutzburg gewesen. Der weitaus größte Teil der Festung war einfach aus dem natürlichen Gestein des Berges herausgemeißelt worden. Und selbst, wenn es anders gewesen wäre - sie konnten schlecht Stück für Stück die ganze Burg hinter sich abbrennen und darauf hoffen, daß die Quorrl fünfmal hintereinander den gleichen Fehler begingen.
Skar sah sich mit unverblümter Sorge um. Die zweite Wehrmauer war weitaus höher und dicker als die erste, die Tore kleiner und leichter zu verteidigen, so daß sie Titchs Krieger sicher noch eine Weile würden aufhalten können. Aber hinter ihr gab es nichts mehr, um den Quorrl Einhalt zu gebieten - jenseits des Hofes, in dem gestern noch die Hunde gewesen waren, begann die eigentliche Festung - ein Labyrinth ineinandergeschachtelter Gebäude und winziger Höfe, Türme und steinerner Würfel, Gänge und Stollen, Treppenschächte und Säle, in denen sie den Angreifern praktisch ungeschützt gegenüberstehen würden. Sie hatten keine Taktik für den Fall ausgearbeitet, daß die Quorrl den Durchbruch schafften, sondern ihre gesamte Kraft darauf konzentriert, ihn so lange wie möglich hinauszuzögern und den Quorrl so teuer wie möglich zu machen. Danach war jeder Mann auf sich selbst gestellt. Der Gedanke, den letzten Kampf seines Lebens in diesen finsteren, kalten schwarzen Gängen der Burg fechten zu müssen, entsetzte Skar.
Sein Blick tastete über die bleichen, von Erschöpfung und Furcht gezeichneten Gesichter der Männer, die rechts und links von ihm Aufstellung genommen hatten. Unten im Hof brannten die Flammen jetzt schon nicht mehr so hoch, der Rauch begann auseinanderzutreiben, und es konnte nicht mehr lange dauern, bis die Quorrl zu ihrem nächsten - und vermutlich letzten - Sturm ansetzten. Ihm fiel auf, wie still es war. Mit Ausnahme Dels und ihm selbst gab es hier oben keinen, der an der Verteidigung der ersten Mauer teilgehabt hatte - Skar hatte selbst die unverletzt gebliebenen Männer zurückgeschickt und gegen frische Kräfte ausgetauscht, aber auch sie wirkten müde und trotz der ermunternden Worte, die sie sich manchmal zuwarfen, niedergeschlagen und voller Furcht. Er erinnerte sich daran, daß diese Männer nicht halb so ausgeruht waren, wie es schien - sie hatten einen Gewaltmarsch durch die Nacht, die Überquerung des noch halb vereisten Flusses und den Alptraum des Durchbruches durch Titchs Heer hinter sich, und die wenigen Stunden Ruhepause, welche die Quorrl ihnen gewährt hatten, waren kaum ausreichend, sie frische Kräfte schöpfen zu lassen. Aber das war nicht alles. Eine Veränderung war mit diesen Kriegern vor sich gegangen, etwas, das er weder mit Worten noch mit Gedanken beschreiben konnte, aber überdeutlich spürte. Auf eine schwer zu fassende Art wirkten sie plötzlich alle gleich, äußerlich verschieden, aber alle von ... etwas beseelt, erfüllt von einem Geist, der nicht der des Kampfes war. Es war überall der gleiche Blick, dem er in ihren Augen begegnete: voller Angst, aber auch irgendwie entschlossen, erfüllt von einer Härte, die ihn schaudern ließ.
Er schüttelte den Gedanken ab. Vielleicht war es Einbildung. Vielleicht projezierte er nur seine eigene Angst und Verbitterung in diese Männer. Vielleicht war es auch nur der böse Atem dieser Festung den er spürte. Es spielte keine Rolle mehr. Wenn diese Festung wirklich so etwas wie einen bösen Geist hatte, dann hätte er längst gesiegt.
»Weißt du, welcher Gedanke mich am meisten quält?« fragte Del neben ihm. Skar zuckte mit den Schultern, blickte ihn fragend an.
»Die Vorstellung, daß wir hier vielleicht das Schicksal einer ganzen Welt entscheiden«, fuhr Del fort. Er schüttelte den Kopf, seufzte. »Eine Schlacht zwischen zwei verbündeten Heeren - geschlagen in diesem Grab.« Er seufzte wieder, verbarg für einen Moment das Gesicht zwischen den Händen und atmete so tief ein, daß es sich beinahe schon wie ein Keuchen anhörte.
»Wir hätten Titchs Angebot annehmen und ihm auf offener Ebene gegenübertreten sollen«, sagte er.
»So?« fragte Skar. »Glaubst du, wir hätten eine Chance gehabt?«
Del machte eine fahrige, ausweichende Bewegung. »Nein«, gestand er, lächelte bitter und deutete auf das Labyrinth aus schwarzen Türmen und Höfen herab, das sich unter ihnen erstreckte. »Aber ich wäre lieber unter freiem Himmel gestorben als im Inneren dieses Ungeheuers.«
Und irgendwo in diesen Worten lag die Lösung verborgen. Plötzlich wußte Skar, woher diese quälende Unruhe kam, die Angst, die so sonderbar neu und gleichzeitig vertraut gewesen war; was es war, das er in den Augen der Männer zu sehen geglaubt hatte. Er starrte Del an, wollte etwas sagen, aber er bekam keinen Laut heraus. Alles war falsch, dachte er. Sie waren getäuscht worden, gründlicher, als er bisher auch nur geahnt hatte. Nicht die Quorrl waren die wirkliche Gefahr - es war immer noch diese Festung, die ihrer aller Denken und Handeln vergiftete. Sie war es immer gewesen, und sie hatten die Beweise dafür sogar in der Hand gehabt. Er hatte die Wahrheit sogar ausgesprochen, wortwörtlich und Del gegenüber, in einer ihrer zahllosen Auseinandersetzungen, aber sie hatten sie einfach nicht erkannt; genauer, etwas hatte sie sie nicht erkennen lassen. Bis zu diesem Moment.
»Was hast du?« fragte Del, dem das Erschrecken auf Skars Gesicht nicht entgangen war. Er versuchte zu lächeln, aber es mißlang. »Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen«, bemerkte er.
»Das habe ich auch« antwortete Skar. Plötzlich fuhr er hoch und packte Del so überraschend bei den Schultern, daß er fast aus dem Gleichgewicht geriet. »Großer Gott, Del, wir dürfen nicht weiterkämpfen!« schrie er. »Hörst du? Wir müssen aufhören!«
Del streifte seine Hände ohne sichtliche Anstrengung ab und schüttelte verwirrt den Kopf. »Was?«
»Begreifst du denn nicht?« fuhr Skar beinahe verzweifelt fort. »Es ist diese Festung! Das Netz ist hier! Es ist immer hiergewesen! Und es wird stärker, je mehr wir uns wehren! Es lebt von unserer Furcht!«
Del starrte ihn an. Aber er begriff nicht. Er hatte den Hund gesehen, der dem Parasiten zum Opfer gefallen war, nachdem er getötet hatte, er hatte Jamaß erlebt, den das Netz vernichtete, nachdem er eingesehen hatte, daß seine Lage aussichtslos war, aber er begriff noch immer nicht, was das alles wirklich bedeutete.
»Skar!« beschwor er ihn. »Komm zu dir. Du -«
»Ich war noch nie so sehr bei mir wie jetzt!« brüllte Skar. »Versteh doch! Wir machen es nur stärker, mit unserem Kampf! Es ist genau, wie Kiina sagte! Dasselbe wie in Elay! Wir füttern dieses Ungeheuer, mit jedem Toten, den dieser Kampf fordert!« Auf der anderen Seite der Mauer erscholl ein mißtönendes Posaunensignal, und aus dem teils fragenden, teils besorgten Ausdruck auf Dels Gesicht wurden wieder die harten Züge eines Kriegers. Auch Skar fuhr herum und sah, wie sich das Quorrl-Heer draußen vor der Burg wieder in Bewegung setzte.