Etwas geschah. Skar sollte sich nie darüber klar werden, ob er es gewesen war, der das letzte Tor aufstieß, indem er ihren wirklichen Feind erkannte und ihn zum Handeln zwang, ehe er die Wahrheit aussprechen konnte, oder ob er es einfach spürte, Sekunden vor den anderen Männern - aber plötzlich war es, als könne er die Gefühle all dieser Hunderter und Aberhunderter Krieger spüren, die mit ihnen auf die Mauer gekommen waren. Er fühlte, wie etwas umschlug, wie aus der Angst und Mutlosigkeit noch einmal Zorn wurde, Trotz und Entschlossenheit, so lange Widerstand zu leisten, wie es ging, wie das plötzlich gar keine Angst mehr, keine Furcht war, sondern nur noch Haß, brennender, allesverschlingender Haß, der den Quorrl dort draußen galt und nichts Rationales mehr an sich hatte.
Und er spürte, wie etwas aus der Burg herausgriff und den Haß und die Angst dieser Männer aufsaugte wie ein Vampir das Blut seines Opfers, etwas Unsichtbares, unendlich Altes, unendlich Finsteres, unendlich Starkes. Er fühlte sich wie im Inneren einer Blase eingeschlossen, die sich unerbittlich zusammenzog. »Nein!« keuchte er. »Tut es nicht!«
Del starrte ihn verblüfft an, aber er schien im allerletzten Moment zu ahnen, was er vorhatte, denn er versuchte, ihn noch zurückzuhalten, aber die Angst gab Skar übermenschliche Kräfte. Er schleuderte Del zur Seite, war mit einem Satz bei der Mauer und stieß die beiden Männer zur Seite, die vor ihm standen. Er beugte sich über die Zinnen hinaus und blickte hinab zu dem heranstürmenden Quorrl-Heer. Eine riesige, ganz in Gold und Rot gehüllte Gestalt führte den Ansturm der Schuppenkrieger.
»Nein!« brüllte er, so laut er konnte. »Titch, tu es nicht! Wir dürfen nicht mehr kämpfen! Es ist das Netz! Es wird uns alle vernichten, wenn ihr -«
Eine Hand packte ihn an der Schulter und riß ihn grob zurück, dann traf ihn der Schlag einer flachen Hand ins Gesicht und schleuderte ihn zu Boden. Wie durch einen blutigen wogenden Schleier erkannte er Dels Gesicht, den unmenschlichen Zorn, der in seinen Augen flammte.
»Bist du wahnsinnig geworden?« schrie Del. Unter ihren Füßen erbebte die Mauer unter dem Anprall der Quorrl, und ein tiefer, knirschender Laut, der von einem Chor triumphierenden Gegröls gefolgt wurde, verriet Skar, daß das Tor schon beim ersten wuchtigen Schlag der Ramme nachgegeben hatte. Aber Del schien es gar nicht zu hören. Wieder packte er Skar, zerrte ihn in die Höhe und holte aus, als wolle er ihn abermals schlagen, versetzte ihm dann aber nur einen Stoß, der ihn zurück und in die Arme zweier Krieger taumeln ließ.
»Haltet ihn fest!« befahl er hart. »Bindet ihn, und dann bringt ihn weg. Er ist wahnsinnig geworden!«
»Nein!« brüllte Skar. Verzweifelt bäumte er sich gegen den Griff der harten Fäuste auf, aber seine Kraft reichte jetzt nicht mehr, ihn zu sprengen. »Del, versteh doch! Wir tun ganz genau, was sie von uns wollen!«
Aber Del hörte gar nicht mehr zu. Mit einer wütenden Bewegung schloß er das Visier seines Helmes, packte sein Schwert mit beiden Händen und war mit einem Satz bei der Mauerkrone, über der bereits die ersten Sturmleitern und -balken auftauchten. Skar wehrte sich mit aller Kraft, aber die beiden Krieger wußten, wie sie seiner Herr werden konnten. Er bekam einen Tritt in die Kniekehlen, der ihn abermals zu Boden sinken ließ, dann wurden seine Arme nach hinten gedreht, und einer der beiden Männer löste seinen Gürtel, um Skar mit dem schmalen Lederstreifen zu binden.
Er führte die Bewegung niemals zu Ende.
Skar sah alles mit entsetzlicher Klarheit, und obwohl er es erwartet hatte, entsetzte ihn das Geschehen so sehr, daß er sekundenlang wie erstarrt dastand. Es war mehr als nur ein Zufall, daß er überlebte.
Ein weiterer, ungeheuerlicher Stoß traf die Burgmauern, so hart, daß der Mann, der ihn hatte fesseln wollen, mit einem überraschten Keuchen vor ihm auf die Knie herabfiel. Der Fels unter ihren Füßen bebte, und für einen Moment war es, als winde sich die gesamte Festung wie in einem Krampf. Aber es war kein weiterer Anprall der gigantischen Ramme gewesen; das Tor war längst geborsten, und fünfzig Meter unter ihnen strömten bereits die ersten Quorrl ins Innere der Festung. Es war ein Stoß, der die Festung von innen heraus erschütterte, die letzte, fürchterliche Anstrengung, mit der sich die Bestie endgültig befreite. Nur ein paar Zoll neben dem Satai platzte die Wand auf. Eine dünne, handgroße Steinplatte löste sich und zerbarst, noch bevor sie auf dem Boden aufschlagen konnte, aber dahinter war kein Stein! Dem Satai blieb nicht einmal Zeit, einen Schrei auszustoßen. Ein Bündel haardünner schwarzer peitschender Fäden zuckte aus der Mauer, klatschte in sein Gesicht und hüllte es ein wie eine tausendfingrige Hand. Der Krieger wurde zu Boden und mit entsetzlicher Wucht gegen die Mauer gerissen, und fast in der gleichen Sekunde platzte der Stein auch an einem Dutzend anderer Stellen auf, schwarze, peitschende Arme griffen wie blinde Schlangen in die Luft, tasteten nach Skar und dem zweiten Satai, der ihn hielt, ringelten sich um dessen Beine und Arme und begannen mit ungeheuerlicher Kraft zu zerren.
Skar reagierte blind. Er ließ sich einfach nach hinten fallen, spürte, wie einer der dünnen Fäden, die sich um seine Knie gewickelt hatten, riß und die anderen ihn mit brutaler Kraft wieder auf die Mauer zuzuziehen trachteten, und holte blitzschnell seine Waffe aus dem Gürtel. Die Klinge zerschnitt das noch dünne, schwarze Gewebe, das sich an ihm festgesaugt hatte, aber fast sofort griffen neue dünne Ärmchen nach ihm. Er sprang zurück, hieb blindlings um sich und spürte, wie der Boden unter seinen Füßen zu knistern begann. Die oberschenkeldicken Balken des Wehrganges wölbten sich, schlugen Blasen wie flüssiger Teer, und plötzlich quollen Millionen und Abermillionen mikroskopisch feiner zuckender schwarzer Fäden zwischen ihren Ritzen hervor. Das Wandstück, das den Satai verschlungen hatte, zerbrach endgültig, und heraus kam etwas, das an eine absurde schwarze Hand mit viel zu vielen Fingern erinnerte und sich rasend schnell auszubreiten begann. Mit einem Male gellten überall auf dem Wehrgang Schreie auf, Schmerzens- und Angstschreie, in die sich das Krachen berstenden Steines und das Knirschen auseinanderbrechender Balken mischte. Schon bevor er herumfuhr, wußte er, was er sehen würde.
Aber er hatte nicht geahnt, wie schlimm es war.
Die gesamte Mauerkrone war zu schwarzem würgendem Leben erwacht. Das Netz war überall, und es wuchs mit irrsinniger Geschwindigkeit. Ein Teil des Wehrganges schien wie unter einem Wust sich windenden, ineinandergeknäulten schwarzen Wurzelwerkes verschwunden zu sein, stachelige schwarze Bälle, die sich hin und her bewegten und alles verschlangen, was sich ihnen in den Weg stellte. Dutzende von Kriegern hatten sich bereits unrettbar in das zuckende schwarze Netz verstrickt; manche schreiend vor Angst und noch um sich schlagend, andere bereits reglos, tot oder ohne Besinnung, und schon zu einem Teil des gewaltigen Monstrums geworden, das sich unaufhaltsam weiter ausbreitete.
Etwas berührte seinen Fuß. Skar schrak zusammen, sah ein dünnes schwarzes Gewebe an seinem Bein emporkriechen und schlug blitzschnell mit dem Schwert zu; die Klinge durchtrennte das haarfeine Gespinst, aber aus dem Balken, auf dem er stand, quollen neue Fäden, krochen aufeinander zu und verknäulten sich, schienen dabei zu wachsen, dicker und widerstandsfähiger zu werden. Der Anblick war auf eine morbide Art so faszinierend, daß Skar um ein Haar die Gefahr vergessen hätte, die er bedeutete. Erst im letzten Moment prallte er zurück, wirbelte herum und versuchte, die Treppe zu erreichen.