Er machte nur einen Schritt. Del und er waren kaum zwanzig Fuß vom Treppengang entfernt gewesen, aber wo sich noch vor Augenblicken die schmale, steil in den Hof hinabführende Treppe befunden hatte, wogte und zitterte jetzt ein Meer schwarzer glitzernder Schlangen, aus denen stachelbewehrte Arme nach ihnen schlugen.
Skar fuhr verzweifelt herum und blieb abermals stehen. Es gab auch hinter ihm keinen Weg mehr. Das Netz war überall, bedeckte die Mauerkrone von einem Ende zum anderen und wuchs noch immer. Die wenigen noch freigebliebenen Stellen schmolzen rasend schnell zusammen und machten einem finsteren, zitternden Teppich Platz, aus dem nur noch hier und da der halb eingesponnene Körper eines Satai oder Veden ragte. Da und dort war das Gewebe bereits so dicht geworden, daß es eine kompakte Masse zu bilden schien; fürchterliche Kokons, die ihre Opfer einschlossen, wie sie es bei Bradburn gesehen hatten. Etwas wie eine schwarze beinlose Spinne floß und wabbelte auf ihn zu und bildete plötzlich dünne peitschende Ärmchen aus, die nach seinen Füßen griffen. Etwas zupfte an seinem Mantel. Skar fuhr entsetzt herum, schlug blindwütig nach dem fast armdicken schwarzen Strunk, der ihn von hinten zu ergreifen versucht hatte, sah sich eine halbe Sekunde lang mit wachsender Verzweiflung um - und war mit einem Satz bei der Mauer.
Ohne auf das schwarze Gespinst zu achten, das sich um seine Füße zu schlingen versuchte, packte er die Sturmleiter, die von außen dagegengelehnt war, schwang sich mit dem Mut der Verzweiflung zwischen den Zinnen hindurch und schien für einen grauenhaften, endlosen Augenblick im Leeren zu schweben, ehe seine pendelnden Füße Halt auf der obersten Sprosse fanden. Eine schwarze Peitschenschnur zuckte über die Mauer, wickelte sich um die Leiter und begann, ihm nachzukriechen. Panikerfüllt kletterte er los, überwand zwei, drei der nicht für Menschen gemachten, viel zu weit auseinanderstehenden Sprossen und begegnete dem Blick eines total verblüfften Quorrl, der von unten die Leiter hinaufgestiegen kam und sich wahrscheinlich vergeblich fragte, ob dies eine neue Art der Verteidigung war - oder einfach nur ein Verrückter.
Skar gab ihm keine Zeit, eine Antwort auf diese Frage zu finden, sondern trat ihm so heftig auf die Finger, daß er mit einem Schmerzensschrei losließ und plötzlich nur noch an einer Hand hing, vierzig Meter über den Köpfen seiner Kameraden, die durch das offenstehende Tor in die Burg und den sicheren Tod stürmten.
Skar sah nach oben. Das Netz war ihm nachgekrochen, aber seine Bewegungen verlangsamten sich zusehends. Dann geschah etwas Seltsames: Für einen Moment erstarrte das schwarze Gespinst - und begann, sich ganz langsam zurückzuziehen.
Trotzdem war er damit keineswegs außer Gefahr. Der Quorrl unter ihm brüllte vor Wut und Angst, angelte mit ungeschickten Bewegungen nach der Leitersprosse und bekam sie endlich wieder zu fassen. Skar trat ihm erneut auf die Finger, und wieder hing der Krieger nur an einer Hand über dem Nichts. Aber er konnte das Spielchen nicht ewig fortsetzen. Hinter dem ersten Quorrl kletterten weitere Schuppenkrieger die Leiter hinauf, und seine aberwitzige Flucht über die Mauer war nicht unentdeckt geblieben - kaum zehn Meter neben ihm hielt ein anderer Quorrl auf einer Leiter inne, lehnte sich gegen die Mauer und begann, einen Bogen vom Rücken zu lösen.
Skars Gedanken überschlugen sich. Er hatte nur noch Sekunden, so oder so, und die Wand links von ihm war voller Quorrl, welche die Mauerkrone schon fast erreicht hatten. Unter ihm - beunruhigend dicht unter ihm - war eine große Anzahl Quorrl dabei, einfach an der Mauer hinaufzuklettern. Verzweifelt drehte er sich herum. Auf der anderen Seite gab es keine Leitern, und der Turm war nur zwanzig Manneslängen entfernt.
Wäre ihm Zeit geblieben, über diesen wahnwitzigen Einfall nachzudenken, hätte er sich möglicherweise eher die Hände abhacken lassen, ehe er es auch nur versuchte, aber er hatte keine Zeit, und wahrscheinlich rettete ihm dieser Umstand das Leben. Skar trat dem Quorrl, der endlich wieder Halt gefunden hatte, zur Abwechslung auf die andere Hand, verschwendete sogar noch eine halbe Sekunde daran, ihm ein schadenfrohes Grinsen zuzuwerfen - und löste vorsichtig die rechte Hand und den rechten Fuß von der Leiter. Seine Finger tasteten über rauhes, rissiges Gestein, verkrallten sich in den daumenbreiten Fugen und natürlichen Vertiefungen und klammerten sich fest.
Skar raffte allen Mut und alle Kraft zusammen, die er noch in sich spürte, löste auch die andere Hand und den linken Fuß von der Leitersprosse und hielt sich in verzweifelter Anstrengung an der Wand fest. Langsam, Handbreit um Handbreit, schob er sich von der Leiter und den hinaufstürmenden Quorrl weg, auf den Turm und das schmale, verschlossene Fenster zu, das er darin gesehen hatte. Skar dankte im stillen allen Göttern, daß sie keine Zeit mehr gefunden hatten, sie zuzumauern.
Der Weg war nicht einmal sehr weit, und die Angst gab ihm zusätzliche Kraft, so daß er kaum fünf Minuten brauchte, die zwanzig Meter zu überwinden. Die Mauer war unebener, als es von oben ausgesehen hatte, und seine Finger- und Zehenspitzen fanden ausreichend Halt; unter normalen Umständen wäre eine solche Klettertour für einen geschickten Mann wie ihn nicht einmal besonders gefährlich gewesen. Aber die Umstände waren nicht normal.
Die Quorrl, die unter ihm die Wand hinaufstiegen, kamen beunruhigend schnell näher, und auch unten im Hof hatte man die einsame Gestalt erblickt, die sich waagerecht an der Wand entlangschob. Pfeile sirrten zu ihm hinauf. Die meisten verfehlten ihn, aber zweimal rettete ihn nur sein lederner Harnisch davor, einfach heruntergeschossen zu werden wie eine Tontaube auf dem Schießstand. Aus den Augenwinkeln sah er, wie die Quorrl eine weitere Sturmleiter herbeischleppten und darangingen, sie unmittelbar unter dem Fenster gegen die Wand zu lehnen. Skar verdoppelte seine Anstrengungen, wobei er immer wieder nach oben blickte, darauf gefaßt, einen Teppich schwarzer peitschender Fäden die Wand hinunterfließen zu sehen. Aber das Netz rührte sich nicht. Skar begriff mit einem Gefühl eisigen Entsetzens, daß es eine denkende Kraft war, die es lenkte. Es wartete auf die Opfer, die freiwillig zu ihm hinaufgestiegen kamen, statt sich durch die Jagd auf einen einzelnen Mann zu verraten.
Die Leiter krachte unmittelbar neben ihm gegen die Wand, ihr oberes Ende nur noch eine halbe Armeslänge von der Fensterbrüstung entfernt. Als Skar in die Tiefe sah, begannen zwei, drei, vier, fünf Quorrl dicht hintereinander die Sprossen hinaufzuturnen. Er kletterte schneller. Als der vorderste Quorrl die Leiter zur Hälfte überwunden hatte, fand er festen Halt an den groben Sprossen, schwang sich hinauf und überwand den letzten Meter zum Fenster mit einer einzigen, kraftvollen Bewegung.
Beinahe wäre es seine letzte gewesen.
Das Fensterglas zerbarst. Die fingerbreite Klinge eines Tschekal erschien inmitten eines Hagels kleiner bunter Glassplitter, stach nach seinem Gesicht und zuckte im allerletzten Moment zurück. Skar fluchte, schlug den Rest der Scheibe mit dem gepanzerten linken Arm ein und zog sich mit einem erschöpften Keuchen ganz durch das Fenster.
Er hörte einen überraschten Ausruf. Eine Hand griff nach ihm, aber er war schneller von selbst auf den Füßen, als sie ihn hochziehen konnte.
»Ihr?« fragte der Satai, der ihn um ein Haar niedergestochen hätte, aufs höchste überrascht. Seine Augen waren weit vor Schrecken. »Aber wie -?«
Skar schnitt ihm mit einer hastigen Bewegung das Wort ab. »Raus hier!« drängte er. »Schnell! Bevor es hier ist!«
Der Satai blinzelte verwirrt. Er war nicht allein. Insgesamt waren es vier Mann, welche die kleine Kammer besetzten - genug, um das winzige Fenster allein gegen eine Armee zu verteidigen, und ganz offensichtlich begriff er Skars Befehl nicht. Wie konnte er auch?