»Flieht!« rief Skar ihnen noch einmal zu. »Ich spreche nicht von den Quorrl! Versucht irgendwie aus der Festung herauszukommen!«
Einer der Männer reagierte sofort - er fuhr herum und stürzte auf den Gang hinaus, noch ehe Skar vollends zu Ende gesprochen hatte, aber die drei anderen starrten ihn einfach nur weiter blöde an, so daß Skar schließlich einem von ihnen einfach einen Stoß versetzte, der ihn rücklings durch die Tür trieb.
»Raus hier!« brüllte er noch einmal. »Das ist ein Befehl. Verlaßt die Festung! Die Quorrl werden euch nichts tun, sagt das allen. Schnell!«
Er war der letzte, der den Raum verließ, und als er die Tür zuzog, erscholl hinter ihm ein scharrendes Geräusch, das bewies, daß seine Verfolger nicht mehr weit waren. Trotzdem blieb er einen winzigen Moment lang stehen und sah sich um. Er wußte, wo er war, aber er war so in Panik, daß ihm der richtige Weg zum Thronsaal nicht mehr einfiel. Kiina. Er mußte Kiina retten, irgendwie.
Etwas krachte von innen gegen die Tür. Inmitten des splitternden Eichenholzes erschien die Klinge einer quorrlschen Kriegsaxt, und Skar rannte blindlings los.
Er erreichte das Ende des Ganges, hörte Schreien und Waffengeklirr vom unteren Ende der Treppe und warf sich mitten in der Bewegung herum, um nach oben zu stürmen. Er wußte nicht mehr, wie viel Zeit vergangen war, seit es begonnen hatte, aber egal, wie viel oder wenig es gewesen sein mochte, es war auf jeden Fall genug, daß sich schon Tausende von Quorrl im Inneren der Festung befanden. Und wahrscheinlich gab es nicht mehr viele Verteidiger, die sich ihnen in den Weg stellten.
Er erreichte die nächste Etage, wandte sich nach links und rannte mit weit ausgreifenden Schritten los. Schwarze Schatten huschten über die Wände. Vor einem Fenster hing etwas, das ein staubverkrustetes Spinnennetz sein mochte, genausogut aber auch etwas entsetzlich anderes. Skar zwang sich, nicht hinzusehen, warf sich durch die Tür am Ende des Korridores - und prallte mit einem gellenden Schrei zurück.
Heute morgen, als er das letzte Mal hiergewesen war, war dieser Raum ein Lager gewesen, eine kleine halbrunde Kammer, in der Waffen und Verbandszeug bereitgehalten wurden und eine Handvoll Männer der Schlacht entgegendösten.
Jetzt war es wie ein Blick in die Hölle.
Das Grau der Wände war einem schwarzen, zuckenden Teppich gewichen. Tausende von langen, sich überkreuzenden und verknotenden Fäden verwandelten die Kammer in ein gigantisches dreidimensionales Spinnennetz, so dicht gewoben, daß man kaum die Hand hindurchstrecken konnte, ohne einen der Fäden zu berühren. Schwarze, faustgroße Klumpen, die auf entsetzliche Weise zu leben schienen, hingen wie pumpende amorphe Herzen inmitten des Höllengespinstes.
Und auf dem Boden lagen drei mannsgroße, unförmige Kokons. Sie bewegten sich. Lebten. Nein, dachte Skar entsetzt, sie lebten nicht - sie umschlossen etwas Lebendes.
Dann platzte eine der schwarzen Hüllen auf, teilte sich mit einem widerwärtigen feuchten Geräusch und gewährte ihm einen Blick auf ein graues, von entsetzlicher Qual verzerrtes Gesicht. Der Mund des Mannes öffnete sich wie zu einem Schrei, aber kein Laut drang hervor, sondern etwas Schwarzes, sich Windendes, Glitzerndes...
Skar schrie auf, taumelte zurück und rannte wie von Furien gehetzt los. Aber er hörte erst auf zu schreien, als er die Treppe erreichte und die ersten Quorrl vor ihm auftauchten.
25.
Der Weg zum Hauptturm war ein Alptraum. Die Quorrl waren überall, aber es gab keine Schlachtordnung mehr, keinen irgendwie gelenkten Angriff, sondern buchstäblich Tausende von einzelnen, mit verbissener Wut geführten Handgemenge, in denen die Verteidiger die heranwogenden Schuppenkrieger vergeblich zurückzudrängen versuchten. Skar wurde in ein Dutzend Kämpfe verwickelt, während er sich bemühte, über den Hof den überdachten Gang zu erreichen, der ihn zur Rückseite des Turmes führen würde, und kurz, bevor er ihn endgültig fand, wurde er in eine regelrechte Schlacht verwickelt, als sich dreißig oder vierzig Quorrl zugleich auf eine kleine Gruppe von Veden stürzten, die sich zu einem Abwehrkreis zusammengeschlossen hatten. Er schrie ununterbrochen Titchs Namen, aber natürlich hörte ihn der Quorrl nicht. Und Skar war nicht einmal sicher, daß er den Kampf noch hätte beenden können, selbst wenn er es gewollt hätte. Was hier geschah, hatte nichts mehr mit Krieg zu tun, es war keine Schlacht mehr, sondern ein Schlachten, ein sinnloses Gemetzel Tausender verzweifelter Individuen, die nicht einmal wußten, daß nicht sie es waren, die ihr Handeln bestimmten.
Irgendwie gelang es ihm, den Hof zu überqueren und sich aus dem Kampf zu lösen, und irgendwie gelang es ihm auch, den zahllosen kleineren Gefechten und Getümmeln aus dem Weg zu gehen, die sich im Inneren der Burg abspielten.
Was er nicht sah, war das Netz. Es war da, er spürte es, hier, überall in der Burg, durchwob jeden Stein mit schwarzen Nervenfäden, die Teil eines einzigen gewaltigen Körpers waren, aber es blieb unsichtbar. Es wartet! dachte er entsetzt. Es wartete darauf, die Falle endgültig zuschnappen zu lassen, wartete auf die Tausende und Abertausende von Quorrl, die bereitstanden, die Festung zu erstürmen, und deren Haß seine Nahrung war.
Und vielleicht war das seine Chance. Wenn er Kiina fand und es ihm gelang, sie hier herauszubringen (Herauszubringen? wisperte eine spöttische Stimme hinter seiner Stirn. Aber wie denn?), wenn es ihm gelang, bevor die Falle wirklich zuschnappte, dann hatte sie vielleicht eine Chance.
Als er bis auf zehn Schritte an die Treppe herangekommen war, schrie eine Stimme hinter ihm seinen Namen. Skar fuhr herum und erkannte eine riesige goldgepanzerte Gestalt, die auf dem Rücken ihres Schlachtrosses aus dem Kampfgetümmel herausragte wie ein Fels aus kochender Brandung.
»Satai!« brüllte der Quorrl, mit einer Stimme, die selbst den Schlachtenlärm übertönte. »Bleib stehen! Kämpfe mit mir!« Skar zögerte. Er wollte Titch zurufen, daß er nicht mehr kämpfen wollte, daß sie nicht mehr kämpfen durften, wollten sie nicht alles nur noch schlimmer machen, aber seine Stimme versagte einfach. Er wußte, daß es sinnlos gewesen wäre. Titch kämpfte wie ein Besessener, während er sein Pferd auf Skar zudrängte, schlug mit seinem Schwert auf jeden ein, der sich ihm in den Weg stellte, gleich, ob Mensch oder Quorrl, und brüllte ununterbrochen seinen Namen: »Kämpfe mit mir, Satai!« schrie er. »Laß es uns zu Ende bringen, nur du und ich!«
Aber Skar stellte sich seiner Herausforderung nicht. Er stürmte in den Turm, sprang mit einem gewagten Satz über die Barriere aus gespitzten Holzpfählen hinweg, welche die Männer hinter dem Tor errichtet hatten, und schrie auch ihnen seine Warnung zu, wegzulaufen und ihr Leben zu retten, obwohl er sicher war, daß sie seine Worte nicht verstanden. Dann raste er die Treppe hinauf, immer zwei, drei Stufen auf einmal nehmend und so schnell, daß er schließlich vor Erschöpfung innehalten mußte, weil sein Herz zum Zerreißen hämmerte und seine schmerzenden Lungen einfach keine Luft mehr bekamen. Sekundenlang blieb er keuchend und mit geschlossenen Augen an die Wand gelehnt stehen, ehe er mühsam weitertaumelte.
Und dann fiel ihm die Stille auf.
Sie war unheimlich. Von draußen hallte der an- und abschwellende Lärm der Schlacht herein, aber die Geräusche schienen sein Ohr gar nicht richtig zu erreichen, waren irgendwie unwirklich, gedämpft, als gäbe es zwischen seiner und der Wirklichkeit dort draußen mit einem Male eine unsichtbare Wand.
Mit klopfendem Herzen sah Skar sich um.
Es war nicht nur still, es war auch keine Spur von Leben zu erkennen, nichts rührte sich, weder hier noch in den fünf oder sechs Etagen des Turmes, an denen er vorübergestürmt war, wie ihm erst im nachhinein auffiel. Dabei hätte der Turm von Männern bersten müssen. Sie hatten alle Verwundeten und Kranken hierhergebracht, in den vermeintlich sichersten Teil der Festung, und er selbst hatte einen Trupp von fünfundzwanzig Männern ausgewählt, der keine andere Aufgabe hatte, als Kiina zu bewachen.