Aber er sah keine Spur von Leben.
Langsam zog er das Schwert aus dem Gürtel und eilte weiter. Er wußte, wie lächerlich die Waffe war, gegen den Feind, der hier auf ihn wartete, aber er hätte es einfach nicht ertragen, mit leeren Händen weiterzugehen. Schließlich erreichte er den Treppenabsatz, hinter dessen Tür der Korridor zu Dels Thronsaal lag. Das Netz war da. Irgendwie spürte er es, noch bevor er die Tür öffnete. Der Gang war erfüllt von einem dichten, zitternden Geflecht aus schwarzen Fäden, da und dort wild ineinandergedreht, hier und da gleichmäßige, fast symmetrische Muster bildend, und erfüllt von einer nur vage wahrzunehmenden, gleichmäßigen Bewegung, wie dem Schlagen eines gigantischen bösen Herzens. Eine Anzahl unförmiger schwarzer Kokons sprachen eine beredte Sprache über das Schicksal der Wachmannschaft, und auch hier gewahrte er die großen, von beunruhigendem Eigenleben erfüllten formlosen Kokons, zu denen sich das Gewebe zu verdichten begann.
Und doch war etwas anders hier als oben auf der Mauer oder in dem kleinen Lagerraum im Turm. Das Netz war weniger dicht, bedeckte die Wände zwar wie eine kompakte schwarze Masse, ließ im eigentlichen Gang aber genug Platz, um ihn vorsichtig zu durchqueren, und trotzdem schien es Skar, als fühle er seine böse Ausstrahlung hier tausendmal stärker. Was immer das Herz dieses schwarzen Dämons war, es war hier präsenter. Er wußte plötzlich, daß das, was sie das Netz und Kiina den Wächter nannten, nur das Werkzeug von etwas viel Gefährlicherem, Böserem war, die Millionen Arme und Hände einer uralten, durch und durch feindseligen Kreatur.
Und er war ihr jetzt ganz nahe.
Unendlich vorsichtig ging er weiter. Er glaubte zu spüren, daß das Netz ihm jetzt nichts mehr antun würde, aus einem Grund, den er nicht begriff, von dessem Vorhandensein er aber überzeugt war. Trotzdem wich er den lose herabhängenden Fäden und Netzgeweben achtsam aus und sah jedesmal zu Boden, ehe er den Fuß aufsetzte, um nur ja nicht mit der schrecklichen Masse in Berührung zu kommen. Er brauchte Minuten, um die wenigen Schritte bis zur Tür des Thronsaales zu gehen.
Sie stand offen. Rechts und links von ihr lagen fast ein Dutzend der schwarzen Kokons, einige zuckend, in unruhiger, verdauender Bewegung, andere aufgeplatzt und leer. Skar zögerte, packte instinktiv sein Schwert fester und trat in den Thronsaal hinein. Und in seiner Mitte, auf der kleinen gemauerten Erhöhung, auf der sich noch vor Stundenfrist Dels Thron erhoben hatte, hockte das Ding.
Es war Skar unmöglich zu sagen, was es war. Es war groß, viel größer als ein Mensch, und es hatte einen Körper, aber er konnte ihn einfach nicht erkennen. Es war nicht so, daß er sich in ständiger Veränderung befunden hätte, wie das Netz, aber es glich nichts, was Skar jemals gesehen hatte, und sein Blick glitt von ihm ab wie ein Lichtstrahl von der polierten Oberfläche eines Spiegels. Es war groß, es war schwarz, und es dachte, das war alles, was er erkannte. Es starrte ihn an, obwohl es keine Augen oder andere sichtbaren Sinnesorgane zu haben schien. Es starrte ihn an, lauernd, auf irgend etwas wartend, von dem er nicht wußte, was es war. Riesig und dräuend hing es über ihm, gehalten von Dutzenden armdicker, schwarzer Taue, die sich zwischen der Decke und den Wänden spannten, wie eine apokalyptische Spinne, aber tausendmal fremder. Vielleicht, dachte Skar halb betäubt, war es nicht einmal wirklich böse. Aber so fremd, daß es keinerlei Kommunikation zwischen ihnen geben konnte.
Erst als er das Stöhnen hörte, gelang es ihm, sich aus dem Bann der augenlosen Blicke zu lösen und sich halb herumzudrehen. Kiina stand neben dem Fenster und starrte ihn aus schreckgeweiteten Augen an, und neben ihr zwei Satai, aber sie waren nicht mehr sie selbst: Über ihre Gesichter und Hände lief ein feines, sacht pulsierendes Netz haardünner schwarzer Fäden, und in ihren Augen war nichts Menschliches mehr. Mit einem Male glaubte Skar auch zu wissen, was die aufgeplatzten leeren Kokonhüllen draußen auf dem Gang bedeuteten. Erst dann sah er Kiina an, und er konnte ein erleichtertes Aufatmen trotz allem nicht mehr unterdrücken, als er erkannte, daß sie noch frei war. Das Netz hatte sie noch nicht berührt, und in ihren Augen war Angst, ein fast tödliches Entsetzen, nicht die polierte Härte wie in den Blicken der beiden Satai. Obwohl er wußte, daß er sterben würde, war er für einen Moment nichts als erleichtert. Für einen Moment, für einen furchtbaren Moment, draußen auf dem Gang, war er überzeugt gewesen, daß sie es gewesen war.
»Skar -« stöhnte Kiina, wurde aber sofort von einem der Männer am Weitersprechen gehindert.
Skar machte eine beruhigende Handbewegung, und der Mann trat wieder zurück. Kiina wimmerte vor Angst. »Nicht«, bat Skar. »Bleib still. Vielleicht...« Er sprach nicht weiter, sondern drehte sich mühsam zu der entsetzlichen Kreatur im Zentrum des Netzes herum. Seine Hände begannen zu zittern. Er schluckte bitteren Speichel hinunter, ehe es ihm gelang zu reden. »Läßt du sie gehen, wenn ich ... freiwillig zu dir komme?« ZUSTIMMUNG. Es waren keine Worte. Keine Gedankenübertragung, wie er sie bei Drask kennengelernt hatte. Ein Teil seiner Seele war bereits mit dem Ungeheuer verbunden. Vielleicht war er das immer gewesen. Und er wußte, daß es die Wahrheit sprach. Kiina war unwichtig; es spielte keine Rolle, ob sie lebte oder starb, frei oder seine Gefangene war. Er war das Opfer, der Preis, um den dieser ganze Kampf überhaupt ausgetragen worden war. Skar wußte plötzlich, wieso es ihm gelungen war, von der Mauer zu entkommen, als einziger zu entkommen, und wieso die Kreatur ihm erlaubt hatte, bis hierher vorzudringen. Es wollte ihn, das, was in ihm war, seit dem Tage seiner Geburt. Und aus irgendeinem Grunde war es wichtig, daß er es ihm freiwillig gab.
»Nein, Skar!« keuchte Kiina. »Tu das nicht! Es wird dich töten!«
Skar hörte gar nicht hin. Langsam senkte er sein Schwert, schob die Klinge in die Scheide zurück und machte einen Schritt auf die Kreatur zu. Etwas wie eine körperlose eisige Hand berührte seine Seele und tastete nach seinen Gedanken.
»Und Del?«
ZÖGERN. DANN ZUSTIMMUNG, GEPAART MIT UNWESENHEIT. ES KONNTE NICHT ALLE KENNEN, DIE ES ZU EINEM TEIL SEINER SELBST GEMACHT HATTE: WENN ER NOCH LEBT. JA.
Skar machte einen weiteren Schritt und blieb abermals stehen. Er wollte weitergehen, schon um Kiinas und - vielleicht - Dels Leben zu retten, aber alles in ihm sträubte sich dagegen, jede Faser seiner Menschlichkeit brüllte auf, als er sich diesem entsetzlich fremden Ding zu nähern versuchte. Es war, als kämpfe er gegen unsichtbare Ketten.
Hinter ihm erscholl ein polternder Laut, dann ein Schrei. Skar sah, wie eine zuckende, fast erschrockene Bewegung über den schwarzen Balg der Bestie lief, bemerkte eine Bewegung aus den Augenwinkeln und drehte sich herum, als der lähmende Bann jählings von ihm abfiel.
Unter der Tür erschienen drei Satai-Krieger, rückwärts gehend und verfolgt von einem tobenden Giganten, der von Kopf bis Fuß in blutbesudeltes Gold gehüllt war. Die beiden Männer, die Kiina bewacht hatten, zogen ihre Klingen und eilten ihren Kameraden zu Hilfe, aber nicht einmal zu fünft gelang es ihnen, den tobenden Quorrl zu stoppen. Titch brüllte ununterbrochen, hieb mit aller Gewalt auf die Männer ein und trieb sie Schritt für Schritt vor sich her. Abgerissene Fetzen des schwarzen Gewebes hingen an seiner Rüstung und seinen Armen, und hinter ihm begann der Boden zu brodeln.