»Skar!« brüllte Titch. »Stell dich mir, Satai! Kämpfe mit mir, wenn -«
Und dann gewahrte er, was sich hinter Skar befand.
Er erstarrte. Skar konnte sehen, wie sich seine Augen hinter dem schmalen Schlitz seines Visiers weiteten. Ein ungläubiger, keuchender Laut drang hinter seiner Kehle hervor.
Die fünf Satai nutzten den Augenblick, um ihn sofort und mit vereinten Kräften anzugreifen, aber Titch reagierte ganz instinktiv. Ein Schwerthieb prallte von seiner Rüstung ab, dann brüllte er auf, verschaffte sich mit einem einzigen wütenden Hieb seines Bihänders wieder Luft und torkelte weiter. Aber sein Blick blieb weiter starr auf die pulsierende Scheußlichkeit hinter Skar gerichtet, und plötzlich hielt er die zentnerschwere Klinge nur noch mit einer Hand, während die andere sich zum Gürtel senkte und eine verborgene Tasche öffnete. Als er sie wieder hob, glitzerte etwas Kleines darin. Eine schlanke, in gesponnenes Kupfer eingehüllte Phiole.
Und Skar fühlte einen gedanklichen Aufschrei von abgrundtiefer Furcht.
Der Korridor hinter Titch schien in einer schwarzen Explosion auseinanderzufliegen. Hunderte, Tausende der dünnen zähen Fäden schossen durch die Tür und auf Titch zu, aber der Quorrl schüttelte sie einfach ab, zerschnitt die wenigen Ranken, die an seiner schimmernden Goldrüstung Halt gefunden hatten, und tötete noch in der gleichen Bewegung einen der Satai.
Skar riß sein Schwert in die Höhe und stürzte los. Mit einem einzigen Schritt erreichte er Titch und die vier überlebenden Satai, schmetterte dem ersten Mann den Schwertknauf in den Nacken und tötete den zweiten mit einem Hieb, der ihm fast den Kopf vom Rumpf trennte.
»Titch!« brüllte er. »Lauf! Ich halte sie auf!«
Rücksichtslos warf er sich zwischen den Quorrl und die beiden übriggebliebenen Krieger. Die Netzkreatur begann zu toben, und die beiden Satai wollten Titch nachstürmen, aber Skar trat ihnen in den Weg, trieb sie mit verzweifelten, unbarmherzigen Schlägen vor sich her und zurück zur Tür. Seine Klinge zerschmetterte das Schwert des einen Mannes, parierte den Hieb des anderen und glitt funkensprühend an dessen Waffe entlang, in einem so wuchtigen Streich, daß der Handschutz des Schwertes zerschnitten und der Arm, der es führte, bis fast an den-Ellbogen gespalten wurde. Skar fegte den Mann mit einem Fußtritt vollends zu Boden, packte den letzten verbliebenen Angreifer einfach bei der Hüfte und warf ihn auf den Gang hinaus. Als er sich herumdrehte, hatte Titch das Ungeheuer erreicht. Selbst der Quorrl wirkte klein und verloren gegen den aufgeblähten Balg der Bestie. Das Ding tobte, warf sich verzweifelt in seinem Netz hin und her, den Tod spürend, den das heilige Wasser der Quorrl brachte. Schwarze Fäden, plötzlich hart wie Stahl und scharf wie Lanzenspitzen, peitschten auf Titch herab und beulten seine Rüstung ein, ohne sie durchdringen zu können, und plötzlich riß Titch die Hand in die Höhe und holte zum Wurf aus. Er schrie ununterbrochen.
Und dann war der Daij-Djan da.
Die Sternenbestie erschien wie aus dem Nichts zwischen Titch und der Netzkreatur, eine lächerlich kleine Gestalt vor dem tobenden Giganten, schwarz und glatt und böse, und mit ungeheuer schnellen Bewegungen. Ihre dreifingrige Klaue zuckte hoch, schloß sich um Titchs Hand und die winzige Glasphiole, die sie umklammerte, und zermalmte beides.
Titch brüllte vor Schmerz. Er bäumte sich auf, versuchte mit der Kraft der Verzweiflung, den viel kleineren und schlankeren Angreifer von sich zu schieben, aber es gelang ihm nicht. Plötzlich begann er zu zittern. Aus seinen gellenden Schreien wurde ein würgendes, schreckliches Röcheln. Er brach in die Knie, hielt sich noch einen Moment lang wankend aufrecht und sank dann nach vorne. Erst dann ließ der Daij-Djan seine Hand los und richtete sich wieder auf. Dunkles Blut und kleine glitzernde Glasplitter lösten sich aus Titchs Hand und rieselten zu Boden. Der Daij-Djan starrte Skar an. Sein Gesicht war glatt und schmal und ausdruckslos wie immer, aber Skar spürte den bösen, höhnischen Triumph, der die Sternenbestie erfüllte.
Siehst du, Bruder? wisperte die unhörbare Stimme des Daij-Djan in ihm. Es ist sinnlos, uns bekämpfen zu wollen. Komm zu uns. Du gehörst uns.
Kiina wimmerte. Skar sah aus den Augenwinkeln, wie sie aufstand und auf ihn zutaumelte, aber es war ihm unmöglich, den Blick vom Daij-Djan zu lösen. Du gehörst uns, flüsterte das Ungeheuer in ihm. Du gehörst uns.
»Skar!« wimmerte Kiina. »Töte mich. Töte mich, ehe mich dieses... Ding bekommt.«
»Aber es will dich doch gar nicht«, rief eine Stimme hinter ihnen. Kiina schrie erschrocken auf, aber es war Skar auch jetzt noch nicht möglich, sich zu bewegen. Er war gelähmt. Willen- und hilflos sah er zu, wie Del neben ihn trat und Kiina fast behutsam von ihm wegzog. Seine Hände staken in schwarzen ledernen Handschuhen, und sein Gesicht sah aus wie ein zerbrochenes Puzzle.
»Es will nur ihn«, sagte Del leise, fast sanft. Er lächelte in Skars Richtung und hob die Hand. »Nicht wahr, Bruder? Du weißt, was es von dir verlangt. Du mußt es ihm geben. Es gehört ihm. Es hat ihm immer gehört.«
Skar antwortete nicht. Er blickte Del nicht an, und er bewegte sich auch nicht, als er die dünnen Fäden spürte, die sich von Dels Hand lösten und sein Gesicht berührten.
Es tat nicht einmal besonders weh, als sie in seine Haut eindrangen.
26.
Er war wieder erwacht aus jenem absurden traum, in dem er so lange gefangen gewesen war, und aus dem er so oft vergeblich aufzuwachen versucht hatte, ohne daß es ihm je länger als für augenblicke gelungen wäre. Und auch da nicht wirklich und ganz, denn alles, was er hatte erreichen können, war ein kurzes wandeln in der grauen dämmerzone zwischen traum und wachsein gewesen, ein augenblick des nicht-mehr-ganz-der-andere, aber auch noch nicht ganz er-selbst-seins. Denn jener andere, jenes andere wesen, das zu sein er geträumt hatte und dessen leben er mit einer mischung aus Verachtung und gönnerhafter amüsiertheit an sich vorüberziehen gesehen hatte, jenes wesen war stark auf seine weise ebenso stark wie er selbst. Ja, manchmal war es ihm beinahe stärker vorgekommen, was absurd war, denn er war sein Schöpfer, er, der träumer, und jener andere nur der erträumte. Aber nun war er erwacht, endlich wieder teil des ganzen, aus dem er vor so unendlich langer zeit herausgerissen und in die ewigkeit geschleudert worden war. Er war erwacht und schwebte über und in der welt, die zu beschützen er erschaffen worden war vor einer million jahre und einer Sekunde, denn das war nicht wirklich ein unterschied. Zeit war ein begriff aus jener absurden traumwelt, die hinter ihm lag, nicht aus der Wirklichkeit über der er jetzt endlich - endlich! - wieder schwebte, körperlos dahinglitt über eine schwarze welt, unter einer schwarzen sonne, über die sanft gewellten dünen und ebenen einer welt ohne farben, ohne licht und bewegung, aber erfüllt von anderen geheimnisvollen dingen, die er während seines traumes schon fast zu vergessen begonnen hatte und an die er sich nun stück für stück wieder zu erinnern begann. Nicht zuletzt auch durch die gegenwart der anderen, die allmählich herankamen, sich näherten und ihn begrüßten, ihn durchdrangen und sich wieder von ihm lösten, das ewige spiel spielend, das nur ein wesen verstehen konnte, das wie er tausend verschiedene Intellekte und kollektivgeist in einem war - denkendes ich und gemeinschaftliches fühlen und wissen zugleich - auf einer stufe existierend, die körperliches leben schon lange nicht mehr benötigte. Denn er war reiner Intellekt, energie in seiner klarsten perfektesten form, die er sich während seiner existenz als traumwesen nicht einmal vorzustellen vermocht hätte, jener pseudo-existenz, in der er so viel vergessen hatte, so unendlich viel verloren, daß ihn selbst jetzt noch ein tiefes, fast schmerzhaftes gefühl des Verlustes ergriff, aber auch mitleid. Mitleid mit jenen armseligen geschöpfen aus seinem traum, die jede Sekunde ihrer existenz damit verbrachten, um die illusion zu kämpfen, die sie leben nannten, wenn auch ein leben, das - in seiner art und auf seine einfache unwissende weise - einen eigenen reiz gehabt hatte, wie er jetzt fast widerwillig zugab, ebenso wie die tatsache, daß er, sollte er noch einmal gezwungen sein zu träumen, vielleicht die gleiche art von traum wählen würde. Ein leben voller abenteuer und gefahr, aber auch voller schönheit und liebe. Einem gefühl, das er vorher niemals gekannt hatte und jetzt vermißte und das ihn verwirrte, mehr als es ihm im ersten augenblick erklärbar schien. Denn was bedeutete liebe für ein geschöpf, das weder tod noch geburt, weder werden noch vergehen kannte. Aber das gefühl des verlustes war da, und obwohl es ihm selbst absurd erschien, verging es nicht wie die anderen erinnerungen an seine traum-existenz, sondern wurde im gegenteil stärker, so heftig, daß es schließlich auch die anderen bemerkten und eine woge der beunruhigung durch ihren geist floß. Natürlich auch durch seinen, denn sie waren er, und er war sie, und wie nicht anders zu erwarten, versuchten sie ihn zu beruhigen, sandten beschwichtigende wogen der kraft und ruhe in seinen/ihren geist und erinnerten ihn an seine wirkliche und einzige aufgabe, den einen und einzigen grund, aus dem es sie gab, aus dem es sie immer gegeben hatte und immer geben würde, den grund, aus dem sie erschaffen worden waren, die aufgabe, wächter und waffe in einem zu sein. Schlafend und träumend über millionen jahre, wenn es sein mußte, aber erbarmungslos zuschlagend, wurden sie/er gebraucht, wenn die gefahr bestand, daß die uralte Ordnung gestört würde, von wem auch immer und wie auch immer. Und sie erinnerten ihn daran, wer er war und wie wichtig gerade sein teil in ihrem zusammenspiel. Und es war wie ein zweites und diesmal sehr schmerzhaftes erwachen, als seine erinnerungen endlich in vollem umfang zurückkehrten. Aber mit dem wirklichen wissen um seine rolle in dem ewigen spiel erwachte auch noch etwas anderes in ihm, etwas fremdes, das nicht dagewesen war, bevor er geschlafen hatte, und nicht dasein durfte, sollte nicht die ordnung des universums aus den fugen geraten. Etwas, das ihn bis auf den grund seiner seelenlosen existenz erschütterte, denn er begriff im gleichen augenblick, was es war, und obwohl er selbst es wußte und die anderen ihm zuschrien, daß es gar nicht möglich war, daß nicht sein konnte, was nicht sein durfte, trotz dieses unerschütterlichen wissens in ihm war da gleichzeitig die ebenso unerschütterliche gewißheit, daß ein teil seiner traum-existenz noch immer da war. Ein winziger, aber ungeheuerlich starker rest jenes wesens, dessen leben er sich fast ein menschenalter lang erträumt hatte. Und es bäumte sich auf, wuchs wie eine explodierende weißlodernde sonne in ihm empor und drohte ihn zu überwältigen, obwohl er sich mit aller macht dagegenstemmte, den sturm fremdartiger gefühle und empfmdungen zurück in die dimensionen des irrealen zu scheuchen versuchte, aus denen er selbst sie heraufbeschworen hatte, sich mit verzweifelnder anstrengung vor augen hielt, wer er war und wie wichtig seine aufgabe war. Obwohl er all dies tat und auch die anderen schließlich zu hilfe rief, spürte er, wie er den kampf verlor, als jener andere geist in ihm immer stärker und stärker wurde, seinen willen schließlich einfach niederrang wie ein riese ein kind und ihn zwang, wieder in jene entsetzliche nicht-welt hinter den grenzen der wirklichkeit zurückzukehren. Und er spürte in seiner allerletzten Sekunde, daß es allein sein fehler gewesen war, daß er einfach zu lange mensch gewesen war, um jetzt wieder er selbst werden zu können. Es war ein fehler, vor dem ihn niemand gewarnt hatte, weil keiner der anderen sich hatte vorstellen können, daß es möglich war, daß ein traum den träumenden überwinden konnte. Aber es war so, und er stürzte mit einem verzweifelten schrei, der quer durch das Universum hallte, zurück in jene entsetzliche alptraumwelt, und skar fuhr fort, seinen ewigen traum zu träumen -