Tyorl fluchte in sich hinein. Den eigenen Dolch immer noch in der Rechten, griff er sich mit der Linken einen Bierkrug und warf damit.
»Mädchen! Runter!«
Die grünen Augen weit aufgerissen, duckte sich das Schankmädchen und hob dabei das Tablett über den Kopf, um den Krug abzuwehren. Hauks Dolch zischte durch die Luft, ein silberner Blitz, dem das Auge nicht zu folgen vermochte.
Das Mädchen schrie, jemand brach in atemlosen, besoffenen Jubel aus, und dann waren die einzigen Geräusche das dumpfe Eindringen des Stahls in das Holz und das entsetzte Schluchzen des Schankmädchens. Dieses Schluchzen hing einen Augenblick in der Luft, bis es unter hochschlagendem Stimmengewirr und dem Knall eines umfallenden Stuhls verschwand. Einer der Männer aus der Stadt vom Nachbartisch lief zu dem Mädchen. Es war ohnmächtig geworden.
Das Serviertablett lag ebenfalls auf dem Boden. Genau in seiner Mitte zitterte Hauks Dolch.
Einer der Zwerge am anderen Ende der Taverne, ein Einäugiger mit schmalem Gesicht, stand auf und verließ die Wirtsstube. Frische, kalte Luft wehte in die Taverne. Der blaue Rauch des Kaminfeuers tanzte, um sich dann zu beruhigen, als die Tür sich hinter ihm schloß.
Tyorl bemerkte die Bewegung. Sein Freund raffte sich auf und schob das Schwert in die Scheide. Das Gesicht über dem kurzen, schwarzen Bart war erbleicht. »Genau in die Mitte, Kiv.«
Kiv schloß wieder die Augen. Er wollte nicht hinsehen. Eine leise Röte zog sich über sein Gesicht.
Tyorl schnappte sich die drei Geldbeutel vom Tisch. »Geh und entschuldige dich bei dem Mädchen, Hauk. Unsere Freunde wollen sich jetzt verabschieden.«
Kiv schüttelte den Kopf. »Ich kann nirgends hin.«
»Dann such dir einen Platz.« Tyorls Daumen fuhr am Heft seines Dolches entlang. »Du hast heute nacht genug getrunken und gespielt. Deine Taschen sind leer.«
Kiv sah von Tyorls Dolch zu Hauks Hand, die auf dem Heft seines eingesteckten Schwertes lag. Die Entscheidung wurde ihm abgenommen, weil seine Freunde aufstanden.
»Na los«, sagte einer verdrießlich, »du hast unser Geld verspielt, Kiv. Laß uns wenigstens unsere Köpfe, ja?«
Kiv leckte sich über die Lippen und holte vorsichtig Luft. »Ich finde, man hat uns übers Ohr gehauen. Du hast dich eingemischt, Elf.«
»Nein«, sagte Tyorl einfach.
Zwischen Hauks Fingern strahlten Saphire wie kalte, blaue Augen. Kiv machte einen Schritt vor, aber die Hand seines Kumpels fiel ihm hart auf die Schulter und hielt ihn fest.
»Komm schon, Kiv. Gib’s auf.«
Tyorl lächelte.
Der große Mann kam mit einem Ruck auf die Beine, stieß den Stuhl hinter sich weg und zog von dannen. Hauk ließ sein Schwert los und ging durch den Raum, um seinen Dolch zurückzuholen.
Tyorl lehnte sich wieder an die Wand. Er konnte es kaum erwarten, Langenberg hinter sich zu lassen.
Der schale Geruch von verschüttetem Bier mischte sich mit dem sauren Gestank ungewaschener Spüllappen. Im Nebenraum hockte Kelida mit klappernden Zähnen und schluckte heftig. Sie schloß die Augen und sah wieder das Licht des Feuers über die Dolchklinge flackern.
Sie hörte ein Stöhnen, das sie als ihr eigenes erkannte. Er hätte sie fast umgebracht! Draußen in der Gaststube wurde wieder in normaler Lautstärke geredet. Tenny, der Wirt, gab dem Putzjungen eine kurze Anweisung. Aus dem Faß an der Tür ergoß sich Bier in einen Krug.
Sie arbeitete erst zwei Wochen in der Taverne, aber das erste, was sie gelernt hatte, war, einem Dolch aus dem Weg zu gehen. Tenny bewunderte diesen Sport und machte sich nichts daraus, daß seine Wand als Ziel diente. Er schien sich auch nichts daraus zu machen, daß gerade eben seine Kellnerin das Ziel gewesen war.
Allmählich kehrte ihr Bewußtsein zurück. Jemand hatte sie aufgerichtet und ihr Wasser ins Gesicht gespritzt. Dann hörte sie Schritte hinter sich. Sie drehte sich um. Es war der junge Messerwerfer.
Sein Dolch steckte wieder in seinem Gürtel. Das Gesicht unter der gebräunten Haut war grau, als er sich neben sie hockte, und Kelida merkte, daß er schwitzte.
»Es tut mir leid«, sagte er. Seine Stimme war tief, und als er versuchte, leise zu sprechen, brach sie leicht.
»Du hast mein Leben aufs Spiel gesetzt«, klagte sie ihn an.
Er nickte. »Ich weiß.«
Als er seine große, schwielige Hand ausstreckte, zuckte Kelida zurück. Er war wie ein Bär: untersetzt, mit breiten Schultern und einem schwarzen Bart. Nur seine Augen waren nicht bärenähnlich; sie waren blau. Als ihr plötzlich bewußt wurde, daß er zwischen ihr und der Tür zum Schankraum stand, wandte sie den Blick nicht mehr von ihm ab. Er las die Wut auf ihrem Gesicht und sprang auf. Dann trat er zurück, um ihr den Weg zur Tür freizumachen.
»Es tut mir leid«, wiederholte er.
Kelida wollte zur Tür. »Laß mich bloß in Ruhe!«
»Es ist vorbei«, sagte er. Dann lächelte er, und seine Lippen verzogen sich selbstverächtlich. »Es tat mir schon leid, als der Dolch losflog.«
Ohne nachzudenken, baute sich Kelida mit geballten Fäusten vor ihm auf. »Würde es dir noch mehr leid tun, wenn ich tot wäre?«
Er wich nicht aus. »Aber ich hatte nicht vor, daneben – «
»Du hast mit meinem Leben gespielt!« Auf einmal glühte sie vor Zorn und Wut. Kratzend und tretend stürzte sie sich auf ihn. Sie fuhr ihm mit den Fingernägeln durchs Gesicht. Bis er ihre Handgelenke mit seiner einen großen Hand gepackt hatte, sah sie bereits Blut aus den Kratzern über seinem Bart quellen. Er hielt ihre Hände hoch und von seinem Gesicht fern. Sie spuckte ihm in die Augen.
Mit der Rückseite seiner freien Hand wischte er sich das Gesicht ab und zog sein Schwert. In diesem Moment sah Kelida seine blauen Augen sehr deutlich. Er zögerte und ließ dann plötzlich ihre Hände los.
»Es tut mir leid. Ich habe wirklich dein Leben aufs Spiel gesetzt.« Er wog das Schwert in seinen beiden, offenen Händen und hielt es ihr wie anbietend hin. Die Saphire auf dem Griff sogen alles Licht in dem düsteren Lagerraum in sich auf und ließen die Steine wie Zwielicht schimmern. Ein dünner, roter Streifen zog sich durch den scharfen, blauen Stahl, als wäre er die Seele der Klinge.
Kelida wich zurück, denn sie verstand die Geste nicht.
»Nimm es.«
»Ich – nein. Nein. Ich will es nicht.«
»Es gehört mir. Ich kann es also auch verschenken.« Er lächelte aufmunternd. »Das habe ich heute abend gesetzt. Nimm du es; rechtmäßig gewonnen, weil dein Leben auf dem Spiel stand.«
»Du bist betrunken.«
Er senkte den Kopf. »Betrunken? Aber ja, ein bißchen bestimmt. Doch ob betrunken oder nüchtern, ich gebe dir dieses Schwert.«
Da sie sich nicht anschickte, die Waffe zu nehmen, legte er sie ihr zu Füßen auf den Boden. Er löste die einfache Lederscheide von seiner Hüfte und legte sie neben das Schwert. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und ging.
Lange starrte Kelida diese Kostbarkeit aus Gold, Stahl und Juwelen an. Dann ging sie sehr vorsichtig um das Schwert herum, als wäre es nicht kalter Stahl, sondern eine Schlange, und trat in den rauchigen Bierdunst des Schankraums.
Der junge Mann ging gerade nach draußen. Sein Freund, der Elf, lehnte bequem an der Wand. Er sah von seinem Bierkrug auf, schenkte ihr einen langen, nachdenklichen Blick und hob grüßend den Krug. Kelida wich seinem Blick aus.
Die Männer am Nachbartisch des Elfen standen auf. Wieder drang frische Luft in die Taverne, als sie aufbrachen. Der Tisch blieb nicht lange leer. Ein Zwerg mit schwarzem Bart nahm dort Platz. Er warf sein Bündel auf den Boden, nahm eine alte Lederscheide vom Rücken und legte sie griffbereit neben sich. Dann winkte er nach etwas zu trinken, und Kelida machte sich wieder an die Arbeit.
Der einäugige Zwerg, der vor der Taverne lauerte, hatte keinen Rang und – was schlimmer war – keinen Clan. Die Theiwaren waren trotz allem Zwerge von Thorbardin und sahen in einem clanlosen Zwerg nicht viel mehr als einen lebenden Geist. Er war ein Geschöpf, das man ignorierte, an dem man vorbeisah, als würde es nicht existieren. Kein überflüssiges Wort wurde je von Realgars Wachen an ihn gerichtet. Im normalen Verlauf des Gemeinschaftslebens gab es einen wie ihn einfach nicht. Niemand wußte, was der clanlose Wachmann getan hatte, um ein solches Schicksal zu verdienen, auch wenn viele darüber spekulierten.