Die vier schlichen langsam den Hang herunter. Wie ein Wolfsrudel. Sie hatten gewartet, bis das Feuer des Zauberers erloschen war, um dann zurückzukehren und das angefangene Morden zu beenden.
Stanach schüttelte den Kopf. »Nein. Wir bleiben zusammen.«
Pfeifers Stimme klang unheilvoll und dünn. »Wenn wir zusammenbleiben, kannst du sicher sein, daß wir zusammen sterben.« Seine Finger schlossen sich fester um Stanachs Schulter. »Einer von uns muß Langenberg erreichen. Laß uns einfach die Chancen verdoppeln. Du läufst jetzt in den Ort. Die Wälder hier sind nicht Qualinesti, aber du bist auch kein Waldbewohner, also bleib bei der Straße, Stanach. Du brauchst weder Elfenwachen noch ihre Magie, um dich hoffnungslos im Wald zu verirren. Bleib im Schatten und bei den Bäumen. Wenn du die Straße immer im Blick behältst, bist du bald in einem Bauerntal. Der Ort liegt oben auf dem Nordwesthang von diesem Tal. Finde Sturmklinge, tu, was du tun mußt, um es zu bekommen. Dann mach dich davon.«
Die Zwerge entfernten sich voneinander und fächerten sich langsam zu einem Halbkreis auf. Der Wind wirbelte den Staub an ihren Füßen auf, so daß es aussah, als würden sie sich eine Handbreit über dem steinigen Boden bewegen. Stanach warf seinem Freund einen Blick zu.
»Und du?«
Pfeifer grinste wissend. »Ich habe noch Kraft für einen Zauber. Du kannst mich ruhig mir selbst überlassen, Stanach.« Eine der Wachen lachte, ein hoher, heulender Ton. »Und die kannst du auch mir überlassen. Ich werde ihnen eine gute Jagd liefern und sie schnell abschütteln. Du holst einfach das Schwert. Ich werde einen Bogen schlagen und dich in zwei, drei Tagen hier treffen. Wir sind wieder in Thorbardin, eh’ du dich versiehst.«
»Ja«, sagte Stanach sarkastisch, »auf den Flügeln von einem deiner Transportzauber, wackelig und taumelnd und nur noch auf der Suche nach einem Platz zum Kotzen.«
Pfeifer zuckte mit den Schultern. »Besser als Laufen.«
Stanach gab ihm recht. »Also warte. Aber nicht unbegrenzt. Wenn ich das Schwert nicht bald finde, müssen wir es gemeinsam aufspüren. Gib mir fünf Tage. Wenn ich dann nicht zurück bin – mit oder ohne Schwert –, mach, was du für das Beste hältst.« Er sah ein letztes Mal zu Kyan und zu dem Blut auf der Straße. »Viel Glück, Pfeifer.«
»Genau, Glück, Stanach. Und wenn du kein Glück hast, tu, was du tun mußt. Also, los!«
Stanach rannte in den Schatten der Bäume. Als er fünf Meter im Wald war, hörte er Stimmen, die die bösen Götter anriefen, und sah sich um.
Wie eine Rauchwolke kam eine dicke, schwarze Woge vom Himmel herunter. Geflatter und ein hohes, nervöses Gepiepse erfüllte die Luft, als ein Schwarm tagblinder Fledermäuse von Pfeifers Willen gelenkt wie Hunderte kleiner Krähen den Hang hinunterfegte.
Wortlos segnete Stanach seinen Freund für die Zeit, die dieser Spruch ihm verschaffte, und eilte nach Norden.
Der scharfe Gestank der kalten Asche ließ Stanach würgen. Von Kyan und seinen Kameraden, die an der Westgrenze des Zwergenreichs Streife liefen, kannte er Berichte über den Krieg. Er dachte, er hätte aus ihren Geschichten gewußt, was er hier in der Außenwelt vorfinden würde. Das wahre Ausmaß der Zerstörung, die er vor sich sah, hatte er sich nicht vorzustellen vermocht.
Noch vor nicht allzulanger Zeit mußte das Tal fruchtbar gewesen sein. Jetzt würden hier bis zum Winteranbruch sogar die Sperlinge verhungert sein. Wie Pfeifer gesagt hatte, lag die Stadt auf dem Hügel am nördlichen Ende des Tals. Fast alles unterhalb dieses Grats bestand nur noch aus verkohlten Trümmern.
Das Licht der untergehenden Sonne fiel weich und dunkelrot über die vormals bestellten Felder. Große, schwarze Streifen zeigten, wo die Flammen das Tal entlanggerast waren. Hier und dort waren einige verstreute Flecken Korn vom Feuer verschont geblieben. Das ungeerntete Getreide schimmerte wie dünne Goldadern. Die feuergeschwärzten Weiden am Ufer des Flusses, der das Tal von Nord nach Süd durchschnitt, griffen wie gierige Skelettfinger nach dem Himmel. So weit Stanachs Blicke reichten, sah er die Ruinen von eingestürzten Bauernhäusern, Scheunen und Nebengebäuden.
Hier war ein Drache durchgeflogen.
Rauhes, betrunkenes Gelächter kam aus dem Tal und hallte vom Hügel wider. Plünderer, dachte Stanach. Das Tal war erst vor kurzem abgebrannt. Die Soldaten der Drachenarmee würden wochenlang zu tun haben, bis sie mit der Plünderung der Höfe und der Toten fertig waren.
Erst vor zwei Wochen war Pax Tarkas im Kharolisgebirge vom Drachenfürsten Verminaard eingenommen worden. Die Truppen von Takhisis hatten mit ihrem Angriff auf Abanasinia begonnen. In Thorbardin hatte man weise entschieden, daß die Menschen, die blind nach neuen Göttern suchten, und die Elfen, die vor kurzem aus Qualinesti geflohen waren, diesen Krieg selbst verschuldet hatten. Sie lebten in einer Katastrophe, die sie selbst heraufbeschworen hatten. Oder sie starben darin.
Geht mich nichts an, dachte Stanach, als er sein Schwert aus der Scheide zog und sich abwandte. Seine Aufgabe bestand in der Suche nach dem Königsschwert, und er würde zu Fuß noch mindestens zwei Stunden bis zur Stadt brauchen. Wenn er nicht in dem verwüsteten Tal aufgegriffen werden wollte, mußte er sich sputen.
Er war glücklich, diesen Ort hinter sich zu lassen. Der Wind wurde jetzt stärker und heulte über die abgebrannten Felder.
Pfeifer lag still wie ein Gespenst hinter einem wüsten Haufen ausgerissener Bäume und atmete den Geruch von feuchtem Lehm ein. Die Theiwaren zogen so geräuschvoll vorbei wie eine Kuhherde. Braun und trocken raschelten die alten Blätter zwischen ihren Füßen, und unter ihren Stiefeln knackten Zweige oder schnellten wieder hoch.
Nachdem er in den Wald geflohen war, hatte Pfeifer bedauert, daß er nicht mehr die Kraft für einen Unsichtbarkeitsspruch hatte. Jetzt grinste er, als ein Soldat mit verwundetem Arm über die Wurzeln einer Eiche stolperte. Sogar ein blindes, taubes Maultier konnte sich vor ihnen verstecken!
Er lauschte lange, während sie weitergingen, nacheinander riefen und das dichte Unterholz verfluchten. Pfeifer hoffte, daß sie noch vorhatten, ihr Abendessen in diesem Wald zu erlegen. Mit ihrem Lärm würden sie wahrscheinlich jedem Reh oder Eichhörnchen auf Meilen hin kundtun, daß Zwerge nahten.
Nach einer Weile wandten sie sich wie Stanach nach Norden, wobei sie sich an den Waldrand hielten. Bei ihrem Tempo würde Stanach nach Langenberg hinein und wieder hinaus geschlüpft sein, bevor die Theiwaren das Tal erreichten. Stanach war zwar ein Zwerg und machte wahrscheinlich genausoviel Lärm wie diese vier, aber er hatte mindestens zwei Stunden Vorsprung. Pfeifer setzte sich hin, schaute sich um und stellte zufrieden fest, daß er allein war.
Zwei Stunden Vorsprung, dachte er, und nicht auf der Suche nach einem Magier, dem es irgendwie gelungen war, sich auch ohne Spruch unsichtbar zu machen. Pfeifer grinste, stand auf und klopfte seine rote Robe ab. Dann blinzelte er zum Himmel, der hier im Schatten der Bäume heller war, als er draußen auf der Straße gewirkt hatte.
Noch ungefähr eine Stunde bis Sonnenuntergang. Genug Zeit, um sich um Kyan zu kümmern.
Pfeifer näherte sich den Toten, die immer noch auf der Straße lagen. Wie schwarze Kreaturen der Nacht krächzten ein halbes Dutzend Saatkrähen ihn an, bevor sie sich davonmachten. Eine, die auf der Schulter eines Soldaten von Realgar hockte, legte den Kopf schief und beäugte den Störenfried mit kalter Dreistigkeit. Ich sehe dich, schien die Krähe zu sagen, und ich werde dich wiedersehen.
Pfeifer erschauerte und warf einen Stein nach dem Vogel. Die Krähe suchte schimpfend das Weite. Pfeifer machte sich an die Arbeit.
Der Zauberer schleifte Realgars drei Mordgesellen von der Straße fort, tief in den dunkler werdenden Wald. Wie Stanach ging es ihm nur um Kyan.
Er würde Kyan Rotaxt ein richtiges Steingrab bauen. Wieder sah er zur Sonne. Wahrscheinlich konnte er Reorx den Geist des Zwerges anvertrauen, wenn die Sonne den Stein im letzten Tageslicht rot färben würde.