Terry Brooks
Das Schwert von Shannara
1
Die Sonne sank schon ins dunkle Grün der Hügel westlich des Tales, und das Rot und Grau-Rosa der Schatten berührte das Land, als Flick Ohmsford mit dem Abstieg begann. Der Pfad erstreckte sich uneben den Nordhang hinab, wand sich zwischen den riesigen Felsblöcken hindurch, die in massiven Gruppen das zerklüftete Gelände beherrschten, verschwand in den dichten Wäldern des Tieflands, um in kleinen Lichtungen und zwischen dünnerem Baumbestand vereinzelt wieder aufzutauchen. Flick folgte dem vertrauten Weg mit den Augen, während er müde dahinschritt, das leichte Bündel auf einer Schulter. Sein breites, winderhitztes Gesicht hatte einen unbewegten, ruhigen Ausdruck, und nur die großen grauen Augen verrieten die rastlose Energie, die unter dem beherrschten Äußeren lebendig war. Er sah mit seinem stämmigen Körperbau, den graubraunen Haaren und buschigen Brauen viel älter aus, als er war. Er trug die weite Arbeitskleidung der Talleute, und in seinem Bündel lagen einige Arbeitsgeräte aus Metall, die umherrollten und leise klirrten.
Die Abendluft war kühl, und Flick zog den Kragen seines offenen Wollhemds fester zu. Sein Weg ging durch Wälder und über sanft geschwungene Ebenen. Von letzteren sah er aber noch nichts, als er die Wälder erreichte, und die Dunkelheit der hohen Eichen und düsteren Hickorybäume griff hinauf, um sich mit dem wolkenlosen Nachthimmel zu überlappen und ihn zu verdecken. Die Sonne war untergegangen und hatte nur das tiefdunkle, mit Tausenden freundlicher Sterne übersäte Blau des Himmels zurückgelassen. Die hohen Bäume verhüllten sogar diese, und Flick blieb allein in der lautlosen Dunkelheit, als er langsam auf dem ausgetretenen Pfad weiterschritt. Da er diesen Weg schon hundertmal zurückgelegt hatte, fiel dem jungen Mann sofort die ungewöhnliche Stille auf, die an diesem Abend das ganze Tal erfaßt zu haben schien. Das vertraute Summen und Zirpen der Insekten, sonst in der Stille der Nacht immer gegenwärtig, die Rufe jener Vögel, die mit der untergehenden Sonne erwachten, um im Flug Nahrung zu suchen — all das fehlte. Flick lauschte angestrengt auf irgendeinen Laut, aber sein scharfes Gehör vermochte nichts wahrzunehmen. Er schüttelte beunruhigt den Kopf. Die tiefe Stille störte ihn, vor allem in Verbindung mit Gerüchten von einem erschreckenden Wesen mit schwarzen Schwingen, das erst vor Tagen am Nachthimmel nördlich des Tales gesehen worden sein sollte.
Er zwang sich zu pfeifen und beschäftigte sich in Gedanken wieder mit seiner Tagesarbeit im Land nördlich des Tales, wo weit verstreute Familien die Felder bestellten und Vieh züchteten. Er besuchte sie jede Woche, brachte ihnen verschiedene Dinge, die sie brauchten, und lieferte Nachrichten über die Ereignisse im Tal und in den fernen Städten des tiefen Südlands. Wenige kannten die Umgebung so gut wie er, und kaum einer hatte Lust, sich über die vergleichsweise sicheren Grenzen ihrer Heimstatt hinaus zu wagen. Die Menschen neigten in dieser Zeit mehr dazu, in abgeschlossenen Gemeinschaften zu leben und den Rest der Welt sich selbst zu überlassen. Flick jedoch war von Zeit zu Zeit gerne außerhalb des Tales unterwegs, und die abgelegenen Heimstätten brauchten seine Dienste und waren bereit, ihn dafür zu bezahlen.
Auch Flicks Vater war keiner, der sich eine Gelegenheit entgehen ließ, wo Geld zu verdienen war, und so schienen alle Beteiligten zufrieden zu sein.
Ein tiefhängender Ast, der seinen Kopf streifte, veranlaßte Flick, zusammenzuzucken und zur Seite zu springen. Ärgerlich richtete er sich auf und funkelte das belaubte Hindernis böse an, bevor er seinen Weg in etwas schnellerer Gangart wieder fortsetzte. Er war jetzt mitten in den Tieflandwäldern, und nur vereinzelt vermochten Mondlichtstrahlen das dichte Geäst zu durchdringen und den geschlängelten Pfad zu erhellen.
Es war oft so dunkel, daß Flick den Weg kaum ausmachen konnte, und während er vorsichtig dahinschritt, wurde er sich der lastenden Stille erneut bewußt. Es war ihm, als sei alles Leben plötzlich ausgelöscht und er allein sei übrig, um seinen Weg in der Waldgruft zu finden. Wieder erinnerte er sich an die sonderbaren Gerüchte. Unwillkürlich wurde ihm ein wenig unheimlich. Er schaute sich sorgenvoll um, aber auf dem Weg und in den Bäumen regte sich nichts, und er fühlte sich auf beinahe peinliche Weise wieder erleichtert.
Auf einer mondbeschienenen Lichtung blieb er kurz stehen und schaute zum Nachthimmel hinauf, bevor er wieder m den Wald eindrang. Er ging langsam. Der gewundene Pfad wurde nach der Lichtung enger und schien nun in einer Wand aus Bäumen und Gebüsch zu verschwinden. Flick wußte, daß das nur eine Täuschung war, schaute sich aber trotzdem immer wieder unsicher um. Einige Augenblicke danach war er wieder auf einem breiteren Weg und konnte zwischen den Baumwipfeln hier und dort den Himmel erkennen. Dann hatte er fast schon den Talboden erreicht und war von seinem Zuhause nur noch ungefähr zwei Meilen entfernt. Er lächelte und begann ein altes Trinklied zu pfeifen, als er weitereilte.
Er war so mit dem Pfad und der offenen Landschaft jenseits des Waldes beschäftigt, daß er den riesigen schwarzen Schatten, der plötzlich emporzuwachsen schien, sich von einer großen Eiche zu seiner Linken löste und schnell auf den Pfad trat, um ihm den Weg zu verlegen, nicht bemerkte. Die schwarze Gestalt berührte ihn beinahe, bevor Flick sie unmittelbar vor sich gewahrte, wie einen riesenhaften schwarzen Steinblock, der ihn zu zermalmen drohte. Mit einem Angstschrei sprang er zur Seite, sein Bündel fiel auf den Boden, und seine linke Hand riß den langen, schmalen Dolch, den er an seiner Hüfte trug, aus der Scheide. Während er sich noch abwehrend duckte, hob aber die Gestalt vor ihm beruhigend einen Arm, und eine kraftvolle Stimme sagte schnelclass="underline"
»Warte einen Augenblick, mein Freund! Ich bin kein Feind und habe nicht den Wunsch, dir zu schaden. Ich suche nur Auskunft und wäre dankbar, wenn du mir den richtigen Weg zeigen könntest.«
Flick atmete ein wenig auf, starrte in die Nacht und versuchte an der schwarzen Gestalt vor sich Ähnlichkeiten mit einem menschlichen Wesen auszumachen. Er konnte jedoch nichts sehen und bewegte sich mit vorsichtigen Schritten nach rückwärts.
»Ich versichere dir, ich führe nichts Böses im Schilde«, sagte die Stimme, so, als lese sie die Gedanken des Talbewohners.
»Ich wollte dich nicht erschrecken, habe dich aber nicht gesehen, bis du ganz nah bei mir warst, und ich fürchtete, du könntest vorbeigehen, ohne mich zu bemerken.«
Die Stimme verstummte, und die hohe schwarze Gestalt blieb schweigend stehen, wenngleich Flick fühlen konnte, wie ihr Blick ihn verfolgte, als er sich langsam herumschob, um mit dem Rücken zum Licht zu stehen. Langsam begann das Mondlicht die Züge des Fremden in verschwommenen Linien und blauen Schatten zu zeichnen. Lange Augenblicke standen die beiden einander schweigend gegenüber.
Dann aber griff die riesige Gestalt plötzlich mit erschreckender Behendigkeit zu, die kräftigen Hände packten die Handgelenke Flicks, und er wurde plötzlich vom Boden hoch in die Luft gehoben, während das Messer gefühllosen Fingern entglitt und die tiefe Stimme spottend zu ihm hinauflachte.
»So, so, mein junger Freund! Was machst du denn nun? Ich könnte dir auf der Stelle das Herz herausschneiden und dich den Wölfen überlassen, wenn ich wollte, nicht wahr?«
Flick wand sich verzweifelt, um sich zu befreien. Er wußte nicht, was für ein Wesen ihn überwältigt hatte, aber es war auf alle Fälle viel mächtiger als jeder normale Mensch und anscheinend entschlossen, Flick ohne Umstände das Lebenslicht auszublasen. Dann hielt ihn sein Gegner plötzlich auf Armlänge von sich, und die spöttisch Stimme wurde eisig vor Ärger.
»Genug davon, Junge! Wir haben unser kleines Spiel gespielt, und du weißt noch immer nichts von mir. Ich bin müde und hungrig und habe keine Lust, mich am kalten Abend auf dem Waldpfad aufhalten zu lassen, während du dir überlegst, ob ich Mensch oder Tier bin. Ich stelle dich auf den Boden, damit du mir den Weg zeigen kannst. Ich warne dich — versuch nicht, mir wegzulaufen, sonst ergeht es dir schlecht.«