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Lange Minuten vergingen, während die Brüder atemlos im dunklen Zimmer warteten und froren. Die Nacht ringsum wurde still, und sie lauschten angestrengt. Schließlich raffte Shea genug Mut zusammen, um wieder über den Rand der Brüstung in die Dunkelheit zu blicken. Flick wollte in seiner Angst zum nächsten Ausgang springen, aber ein paar geflüsterte Worte Sheas versicherten ihm, daß die Kreatur verschwunden war. Er glitt vom Fenster zu seinem Bett zurück, erstarrte aber, als er sah, daß Shea sich im Dunkeln hastig anzog.

Er wollte etwas sagen, doch Shea legte den Finger an die Lippen. Flick kleidete sich auf der Stelle ebenfalls an. Als sie beide fertig waren, neigte sich Shea zu seinem Bruder und flüsterte ihm ins Ohr: »Solange wir hierbleiben, sind alle hier in Gefahr. Wir müssen heute noch fort — auf der Stelle! Bist du wirklich entschlossen, mitzugehen?«

Flick nickte mit Nachdruck.

»Wir gehen in die Küche und packen etwas zu essen ein«, setzte Shea hinzu. »Nur so viel, daß wir ein paar Tage damit auskommen. Ich hinterlasse Vater einen Brief.«

Wortlos griff Shea nach seinem Bündel und verschwand lautlos im dunklen Flur, der zur Küche führte. Flick folgte ihm hastig. Im Korridor konnte man nichts sehen, und sie brauchten einige Minuten, um sich an den Wänden entlang zur breiten Küchentür vorzutasten. In der Küche zündete Shea eine Kerze an und deutete auf die Vorratsschränke, während er auf einem kleinen Blatt Papier eine Nachricht für seinen Vater kritzelte und es unter einen Krug schob. Flick war in wenigen Minuten fertig und kam zu seinem Bruder zurück, der die kleine Kerze löschte und zur Hintertür ging, wo er noch einmal stehenblieb und sich umdrehte.

»Sprich kein Wort, sobald wir draußen sind! Bleib immer hinter mir!«

Flick nickte, aber nun durfte nicht mehr gezögert werden.

Shea öffnete die Holztür und blickte angestrengt hinaus in den mondbeschienenen Hinterhof, der von Baumgruppen umgeben war. Er winkte Flick, und sie traten vorsichtig hinaus in die kühle Nachtluft. Sie schlössen leise die Tür hinter sich. Im Freien war es heller, und ein schneller Blick zeigte, daß niemand zu sehen war. Bis zur Morgendämmerung mochten es nur noch Stunden sein. Die Brüder lauschten, und als auch nichts zu hören war, ging Shea voraus durch den Hof.

Sie verschwanden in den Schatten einer Hecke. Flick warf einen letzten, wehmütigen Blick auf das Heim, das er vielleicht nie wiedersehen würde.

Shea suchte sich lautlos den Weg zwischen den Häusern des Dorfes. Er wußte, daß der Schädelzeichenträger nicht genau wußte, wer und wo er war, sonst hätte er ihn im Gasthof gefaßt. Aber man konnte davon ausgehen, daß das Wesen ihn im Tal vermutete und deshalb in den schlafenden Ort eingedrungen war, um nach dem verschwundenen Nachkommen des Hauses Shannara zu suchen. Shea mußte sogar davon ausgehen, daß es mehrere von diesen Wesen gab und sie wahrscheinlich das ganze Tal überwachten. Flick und er würden die Vorteile von Heimlichkeit und Verstohlenheit nützen müssen, um das Tal und die nähere Umgebung im Lauf des folgenden Tages hinter sich zu lassen. Das verlangte schnelles Tempo mit wenigen Stunden Schlaf, aber noch größer war das Problem, wohin sie sich wenden sollten. Sie hatten Nahrung nur für einige Tage dabei, und eine Reise zum Anar würde Wochen dauern. Das Land außerhalb des Tales war den Brüdern nicht vertraut, wenn man von ein paar sehr belebten Straßen und mehreren Orten absah. Gerade dort würden aber die Träger der Schädelzeichen sicher aufpassen.

Shea überlegte gründlich. Westlich des Tales war, abgesehen von einigen Dörfern, freie Landschaft, und wenn sie sich dorthin wandten, entfernten sie sich vom Anar. Gingen sie nach Süden, würden sie schließlich die vergleichsweise annehmbare Sicherheit der größeren Südlandstädte Pia und Zolomach erreichen, wo sie Freunde und Verwandte hatten.

Aber das war der nächstliegende Weg für sie, den Schädelzeichenträgern zu entkommen, und bot sich deshalb auch diesen an, besonders scharf überwacht zu werden. Überdies war die Landschaft jenseits der Duln-Wälder offen und allzu übersichtlich.

Sie bot wenig Deckung. Der Weg zu den Städten war weit. Nördlich des Tales gab es eine große Fläche mit dem Rappahalladran-Fluß, dem riesigen Regenbogen-See und unbesiedeltem Land, das schließlich zum Reich Callahorn führte. Die Wesen mußten auf ihrem Weg vom Norden dort durchgekommen sein. Sie kannten die Gegend gewiß besser als die Brüder und würden sie im Auge behalten, wenn sie vermuteten, daß Balinor von Tyrsis aus nach Shady Vale gekommen war.

Der Anar lag nordöstlich vom Tal, über endlose Meilen der rauhesten, gefährlichsten Landschaft im ganzen weiten Südland.

Dieser direkte Weg war der gefährlichste, aber auch der, auf dem die feindlichen Späher ihn am wenigsten erwarten würden. Er wand sich durch düstere Wälder, tückisches Tiefland und verborgene Sümpfe, die jedes Jahr das Leben unvorsichtiger Reisender forderten. Aber östlich der Duln-Wälder lag noch etwas, wovon nicht einmal die Späher etwas wissen konnten — die Sicherheit des Hochlands von Leah. Dort konnten die Brüder um die Hilfe Menion Leahs, Sheas engem Freund, bitten; er war trotz Flicks Meinung die einzige Person, die in der Lage sein mochte, sie durch die gefährlichen Gegenden zum Anar zu führen. Shea schien das die einzige vernünftige Alternative zu sein.

Die Brüder erreichten den südöstlichen Rand des Ortes und blieben lautlos an einem alten Schuppen stehen, mit den Rücken an der rauhen Bretterwand. Shea sicherte wachsam nach vorn. Er hatte keine Ahnung, wo das rasselnde Wesen inzwischen sein mochte. Im dunstigen Mondlicht der verblassenden Nacht war alles noch verschwommen. Irgendwo links von ihnen bellten ein paar Hunde wild, und in den Fenstern naher Häuser wurden Scheiben hell, als schläfrige Bewohner neugierig in die Dunkelheit blickten. Der Morgen würde schon in einer Stunde anbrechen, und Shea wußte, dass sie Entdeckung riskieren und zum Rand des Tales und dem schützenden Duln-Wald laufen mußten. Waren sie noch im Tal, wenn es hell würde, würde das Wesen sie die Hügelhänge hinaufsteigen sehen und ihnen nachsetzen.

Shea schlug Flick auf den Rücken und nickte, dann begann er loszutraben, hinein in die dichten Wäldchen und Gebüsche des Talbodens. Die Nacht ringsum war still, bis auf die dumpfen Geräusche ihrer Füße im hohen Gras, das taunaß war. Belaubte Zweige schnellten ihnen entgegen, während sie liefen, und klatschten ihnen feucht ins Gesicht. Sie hasteten auf die sanften, strauchbewachsenen Osthänge des Tales zu, sprangen um die dicken Eichen und Hickorys herum, hüpften über Früchte und Äste, die unter den weitgespreizten Baumkronen, am Boden lagen. Sie erreichten den Hang und hetzten über die freien Wiesen, so schnell ihre Beine sie trugen, ohne umzuschauen oder auch nur zur Seite ins Dunkel zu blicken, nur nach vorn auf den Boden, der unter ihnen dahinflog und im Tal verschwand. Sie rutschten auf dem feuchten Gras häufig aus, gelangten aber bald zum Talrand, wo sie die hohen Talwände im Osten vor sich hatten, die mit formlosen Steinblöcken und spärlichem Gebüsch besetzt waren und eine große Barriere vor der Welt dahinter bildeten.

Shea war körperlich in ausgezeichneter Verfassung und flog über dem unebenen Boden dahin, behende zwischen Strauchwerk und kleinen Felsblöcken, die ihm den Weg versperren wollten, Haken schlagend. Flick folgte ihm unermüdlich, und seine kräftigen Beinmuskeln hatten mächtig zu arbeiten, damit er, der der Schwerere war, mit der leichtfüßigen Gestalt vor ihm Schritt halten konnte. Nur ein einziges Mal riskierte Flick einen kurzen Blick nach hinten, und seine Augen nahmen ein verschwommenes Bild ineinander verschlungener Baumwipfel wahr, die sich nun über dem jetzt verborgenen Ort erhoben und als scharf umrissene Silhouetten vor dem verblassenden Licht der nächtlichen Sterne und dem umwölkten Mond standen. Er sah Shea vor sich herlaufen, der offenbar bestrebt war, den kleinen Wald in einer Meile Entfernung zu erreichen. Flicks Beine begannen zu ermüden, aber seine Furcht vor dem Wesen, das irgendwo hinter ihnen sein mußte, ließ keine Verschnaufpause zu. Er fragte sich, was ihnen bevorstünde, nachdem sie nun Flüchtlinge aus der einzigen Heimat, die sie gekannt hatten, waren, verfolgt von einem unfaßbar bösartigen Feind, der ihr Leben auslöschen würde wie die Flamme zweier kleiner Kerzen, wenn er sie erwischen würde. Zum erstenmal seit Allanons Weggang wünschte sich Flick inbrünstig, der rätselhafte Wanderer möge wieder auftauchen.