Die Minuten verrannen schnell, und der kleine Wald rückte näher, während die Brüder keuchend weiterliefen. Kein Laut drang an ihre Ohren, nichts bewegte sich in der Landschaft vor ihnen. Es war, als seien sie die einzigen Lebewesen in einer riesigen Arena, über der die wachsamen Sterne funkelten.
Der Himmel wurde heller, als die Nacht sich zögernd verabschiedete, und die gigantische Illumination am Firmament fing an zu verblassen in der Morgendämmerung. Die Brüder liefen weiter, unbeirrt von allem, unter dem Gesetz der Notwendigkeit, schneller zu werden- um nicht vom alles entblößenden Licht des Sonnenaufgangs eingeholt zu werden, der nur noch Minuten auf sich warten ließ.
Als die beiden endlich den Wald erreichten, sanken sie keuchend auf den mit Zweigen übersäten Boden unter hohen Hickorybäumen nieder, heftiges Pochen in Ohren und Brust.
Sie lagen einige Minuten regungslos da und atmeten schwer in die Stille hinein. Dann raffte Shea sich mühsam auf und schaute ins Tal hinunter. Weder auf dem Talboden noch in der Luft regte sich etwas; die Brüder schienen es geschafft zu haben, hierher zu gelangen, ohne entdeckt zu werden. Aber das Tal hatten sie noch nicht hinter sich. Shea zerrte Flick hoch, zog ihn mit durch die Bäume, den steilen Hang hinauf.
Flick ließ es stumm mit sich geschehen, nur noch bestrebt, seine nachlassende Willenskraft darauf zu konzentrieren, einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Der Osthang war schroff und gefährlich, seine Oberfläche ein Gewirr von Felsblöcken, umgestürzten Bäumen und stachligen Büschen, das den Aufstieg unendlich mühsam werden ließ. Shea überwand die Hindernisse, so schnell er konnte, während Flick seinen Fußstapfen folgte. Die Sterne am Himmel verschwanden ganz. Vor Shea und Flick, über dem Talrand, sandte die Sonne ihr erstes schwaches Leuchten in orangeroten und gelben Streifen in den Himmel, an dem die verschwommenen Konturen des fernen Horizonts sich abzeichneten. Shea begann nun auch zu erlahmen, und sein Atem ging in kurzen Stößen, während er voranstolperte.
Flick zwang sich dazu weiterzukriechen, mit zerkratzten und abgeschürften Händen und Unterarmen, die ihre Verletzungen scharf randigen Sträuchern und Felsblöcken verdankten.
Der Aufstieg schien endlos zu sein. Sie bewegten sich im Schneckentempo über das rauhe Gelände, und allein die Angst, entdeckt zu werden, trieb sie weiter.
Als sie drei Viertel des steilen Weges hinter sich hatten, stieß Flick einen Warnschrei aus und stürzte keuchend auf den Boden. Shea fuhr angstvoll herum und sah augenblicklich das riesige schwarze Objekt, das sich langsam aus dem nun schon fernen Tal erhob — wie ein gigantischer Vogel in die Morgendüsternis aufsteigend, in weiten Spiralen. Shea warf sich zu Boden, bedeutete seinem Bruder, in Deckung zu kriechen, und betete darum, daß das Wesen sie nicht gesehen haben möge. Regungslos lagen sie am Berghang, während der unheimliche Träger des Totenschädels höherstieg, Kreise ziehend, näher kommend. Das Wesen stieß plötzlich einen gräßlichen Schrei aus und nahm den Brüdern die letzte schwache Hoffnung auf ein Entkommen. Sie waren erfaßt von demselben unerklärlichen Entsetzen, das Flick gelähmt hatte, als er mit Allanon zusammen im Buschwerk unter dem riesigen schwarzen Schatten gekauert war. Nur gab es diesmal kein Versteck. Ihre Furcht schwoll rasch zur beginnenden Hysterie an, als das Wesen direkt auf sie zuschwebte, und in diesem kurzen Augenblick waren sie gewiß, sterben zu müssen.
Im nächsten Moment aber beschrieb der schwarze Jäger einen weiten Bogen und glitt nach Norden davon, bis er ihren Blicken entschwunden war.
Die Brüder lagen da wie erstarrt, endlose Minuten in den steinigen Boden mit seinem dürftigen Bewuchs gekrallt. Sie befürchteten, das Wesen könne umkehren und sie töten, sobald sie sich bewegten. Aber als die grausige Furcht verebbte, standen sie schwankend auf und stiegen stumm und erschöpft weiter den Berg hinauf. Der Weg zum Grat war nur noch kurz, dann eilten sie über eine offene Wiese zum Duln-Wald, der Schutz bot. Binnen Minuten waren sie zwischen den Bäumen untergetaucht, und die aufgehende Morgensonne sah das Land bis hinunter zum Talboden still und leer.
Die jungen Männer verlangsamten den Schritt, und Flick, der immer noch nicht wußte, wohin sie gingen, rief Shea zu:
»Warum diesen Weg?« Seine Stimme klang nach dem langen Schweigen seltsam in seinen Ohren. »Wohin gehen wir eigentlich?«
»Zum Anar — wie Allanon es uns gesagt hat. Die beste Aussicht haben wir in der Richtung, wo uns die Schädel träger am wenigsten erwarten. Wir gehen also nach Osten zu den „Schwarzen Eichen“ und von dort nach Norden, immer in der Hoffnung, daß wir unterwegs Hilfe finden.«
»Warte!« sagte Flick scharf. »Du meinst, wir gehen nach Osten durch Leah und hoffen, daß Menion uns helfen kann.
Hast du den Verstand ganz verloren? Warum ergeben wir uns nicht einfach diesem Wesen? Dann ginge es wenigstens schneller!«
Shea hob die Hände und wandte sich seinem Bruder zu.
»Wir haben keine andere Wahl. Menion Leah ist der einzige, an den wir uns wenden können. Er kennt das Land außerhalb von Leah. Vielleicht weiß er einen Weg durch die Schwarzen Eichen.«
»O gewiß«, sagte Flick düster. »Hast du vergessen, daß wir uns beim letztenmal dort verirrt haben? Ich traue ihm nicht weiter, als ich ihn werfen kann, und wahrscheinlich kann ich ihn nicht einmal hochheben.«
»Wir haben keine andere Wahl«, wiederholte Shea. »Du hättest nicht mitzukommen brauchen, weißt du.« Er wandte sich ab. »Entschuldige, Flick, aber wir müssen das nach meiner Weise machen.« Er ging weiter, und Flick folgte ihm kopfschüttelnd. Flick wußte, daß er voreingenommen war, was Menion Leah anging. Er mißbilligte ihn und alles, wofür er stand — schon seit ihrer ersten Begegnung vor fünf Jahren.
Der einzige Sohn einer Familie, die seit Jahrhunderten das kleine Hochland-Königreich beherrschte, hatte Menion sein ganzes Leben lang einen tollen Streich nach dem anderen geliefert. Er hatte nie arbeiten müssen und war entweder beim Jagen oder beim Raufen zu finden gewesen. Seine Einstellung war beunruhigend. Nichts an seiner Familie, seiner Heimat oder seinem Land schien ihm viel zu bedeuten. Der Hochländer ging durchs Leben wie eine Wolke durch den leeren Himmel, ohne etwas zu berühren, ohne eine Spur zu hinterlassen. Es war diese unbekümmerte Haltung dem Leben gegenüber, die ihnen vor einem Jahr in den Schwarzen Eichen beinahe den Tod gebracht hätte. Shea fühlte sich aber trotzdem von ihm angezogen, und auf seine leichtfertige Art schien der Hochlandbewohner die Zuneigung ehrlich zu erwidern.
Flick war jedoch nie davon zu überzeugen gewesen, daß man sich auf diese Freundschaft verlassen konnte, und nun gedachte Shea ihr Leben einem Manne anzuvertrauen, der von jedem Verantwortungsgefühl frei zu sein schien.
Es war später Nachmittag, als die beiden endlich die Ufer des breiten Rappahalladran erreichten. Shea ging am Fluß voraus, etwa eine Meile weit, bis sie eine Stelle erreichten, wo das gegenüberliegende Ufer heranrückte und das Flußbett merklich enger wurde. Hier blieben sie stehen und blickten hinüber zum Wald. Die Sonne würde in einer guten Stunde untergehen, und Shea wollte die Nacht nicht auf dem diesseitigen Ufer zubringen. Er fühlte sich erst sicher, wenn das Wasser zwischen ihm und etwaigen Verfolgern lag. Sie machten sich daran, ein kleines Floß zu bauen und nahmen ihre Handäxte und Jagdmesser zu Hilfe. Es sollte nur dazu dienen, ihre Bündel und die Kleidung zu tragen. Ein Floß von solcher Größe zu bauen, daß es sie selbst getragen hätte, hätte zuviel Zeit erfordert. Sie würden schwimmen müssen. Nach einer Stunde waren sie fertig, zogen sich aus, befestigten ihre Sachen auf dem Floß und stiegen in das kalte Wasser des Rappahalladran.