»Jetzt«, zischte Shea. »Das Ding kann uns nicht sehen. Lauf zu der Gebüschreihe dort!«
Flick ließ sich das nicht zweimal sagen. Sobald das Ungeheuer das Wäldchen abgesucht hatte, würde es auf ihr Versteck zukommen. Er hetzte durch das nasse Gras und schaute immer wieder um, aus Furcht, das Wesen könne plötzlich aus dem Hain auftauchen und ihn entdecken. Hinter ihm lief Shea tief gebückt durch die Wiese. Sie erreichten das Gebüsch — und dann fiel Shea ein, daß sie ihre Sachen vergessen hatten — die Bündel, die jetzt am Boden des kleinen Tales lagen. Das Wesen konnte sie nicht übersehen, und dann würde die Jagd vorbei sein, da kein Zweifel mehr darüber best; and, in welche Richtung sich die Gejagten gewandt hatten. Sheas Mut sank.
Wie konnten sie nur so kurzsichtig gewesen sein? Er packte verzweifelt Flicks Schulter, aber sein Bruder hatte schon begriffen und sank resigniert auf den Boden. Shea wußte, daß er zurückgehen mußte, selbst auf die Gefahr hin, gesehen zu werden. Aber als er sich in Bewegung setzen wollte, tauchte die schwarze Erscheinung wieder auf und hing regungslos am heller werdenden Himmel. Die Chance war vertan.
Wieder rettete sie das Licht. Als der Totenschädelträger lautlos über die Landschaft schwebte, stieg die goldene Sonnenscheibe über die Hügelbäume im Osten herauf und sandte die ersten Vorboten des nahenden Tages über Himmel und Land. Die Sonnenstrahlen streiften das Nachtwesen, und als es sah, daß seine Zeit um war, stieg es plötzlich in den Himmel hinauf und zog weite Kreise über der Landschaft. Es stieß seinen Schrei aus, so daß für einen Augenblick alles zu erstarren schien, dann flog es schnell nach Norden davon. Augenblicke später war es verschwunden, und zwei dankbare, fassungslose Talbewohner umarmten einander glücklich.
5
Am nächsten Tag hatten die Brüder die Hochlandstadt von Leah erreicht. Die Stein- und Mörtelmauern um die Stadt waren eine willkommene Zuflucht für die erschöpften Wanderer, die ohne Zögern durch das Westtor in die schmalen Straßen der Stadt traten. Es war zu einer geschäftigen Stunde, in der die Leute sich zwischen den kleinen Läden und Märkten an der Zugangsstraße drängten, die zu Menions Zuhause führte, einem stattlichen alten Gebäude, verdeckt von Hecken und Bäumen am Rande gepflegter Rasenflächen und duftender Gärten. Leah kam den Männern aus Shady Vale wie eine große Metropole vor, wiewohl sie vergleichsweise klein war, wenn man an die Größe der Städte im tiefen Süden oder selbst der Grenzstadt Tyrsis dachte. Leah war eine vom Rest der Welt abgesonderte Stadt, und Reisende kamen nicht allzu häufig durch ihre Tore. Sie war selbstgenügsam und sorgte nur für die Bedürfnisse ihrer Bewohner. Die Monarchie, die über das Land herrschte, war die älteste im Südland. Sie war das einzige Gesetz, das die Bewohner kannten — vielleicht das einzige, das sie brauchten, auch wenn Shea davon nie ganz zu überzeugen gewesen war.
Shea dachte über seine sonderbare Freundschaft mit dem Thronerben nach. Eines Tages würde Menion König sein, aber Shea bezweifelte, daß sein leichtfertiger Freund darauf jetzt schon mehr als beiläufige Gedanken verschwendete.
Menions Mutter war vor einigen Jahren gestorben, kurz nach dem ersten Besuch Sheas im Hochland. Menions Vater war kein alter Mann, aber der Tod eines Königs hing nicht immer mit dem Alter zusammen, und Menion würde seine Lektionen schnell lernen müssen, wenn dem König etwas zustoßen sollte.
Das Heim der Leah-Könige war ein breites, zweistöckiges Gebäude, das friedlich zwischen hohen Hickorybäumen und kleinen Gärten stand. Durch hohes Gebüsch war der Besitz von der Stadt abgegrenzt. Ein großer Park lag dem Haus direkt gegenüber, und als die Talbewohner müde auf das Tor zuschritten, planschten kleine Kinder übermütig in einem Teich. Der Tag war noch warm, und an den Wanderern eilten die Bewohner vorbei, um Freunde zu treffen oder zu ihren Familien zurückzukehren. Im Westen färbte sich der Spätnachmittagshimmel goldrot.
Das hohe Eisentor stand offen, und die Brüder strebten mit schnellen Schritten auf den Eingang zu, zwischen Hecken und Blumenbeeten auf einem mit Platten belegten Weg. Bevor sie die Tür erreichten, ging sie von innen auf, und Menion Leah stand vor ihnen. Er trug eitlen bunten Umhang und eine Jacke in Grün und Hellgelb, und sein Körper verriet katzenhafte Gewandtheit. Er war kein großer Mann, wenn auch einige Zoll größer als die Talbewohner, aber breitschultrig und schlaksig. Er wollte gerade einen Seitenweg betreten, blieb aber wie angewurzelt stehen, als er die beiden staubigen, erschöpften Gestalten sah, und seine Augen weiteten sich vor Überraschung.
»Shea!« stieß er hervor. »Was, um alles... was ist mit dir geschehen?« Er faßte sich und drückte seinem Freund herzlich die Hand.
»Gut, dich zu sehen, Menion«, sagte Shea lächelnd.
Menion trat einen Schritt zurück und betrachtete Shea mit seinen grauen Augen prüfend.
»Ich hätte nie gedacht, daß mein Brief so schnell Wirkung zeigt.« Er verstummte und starrte in das müde Gesicht seines Gegenübers. »Daran liegt es auch nicht, wie? Aber sag nichts — ich will nichts hören. Ich nehme um unserer Freundschaft willen lieber an, daß du nur hergekommen bist, um mich zu besuchen. Und den argwöhnischen alten Flick hast du auch mitgebracht, wie ich sehe. Das ist eine Überraschung.« Er grinste Flick an, der kurz nickte und sagte:
»Das war nicht meine Idee, darauf kannst du dich verlassen.«
»Es wäre mit lieber, Menion, wenn unsere Freundschaft der Grund für diesen Besuch wäre«, seufzte Shea. »Es wäre mir lieber, wenn ich dich nicht in diese Dinge verwickeln müßte, aber ich fürchte, wir sind in ernsthaften Schwierigkeiten, und du bist der einzige, der uns helfen kann.«
Menion wollte lächeln, überlegte es sich aber anders, als er die ernste Miene Sheas sah, und nickte.
»Nichts Komisches an der Sache, wie? Nun, zuerst kommt ein heißes Bad, dann eine Mahlzeit. Was euch hergeführt hat, können wir später besprechen. Herein mit euch! Mein Vater hat an der Grenze zu tun, aber ich stehe euch zur Verfügung.«
Im Haus wies Menion die Dienerschaft an, sich um die Brüder zu kümmern, und sie wurden fortgeführt, um ein willkommenes Bad zu nehmen und sich umzuziehen. Eine Stunde später trafen sich die drei jungen Männer in der großen Halle zu einem Essen, das normalerweise für die doppelte Anzahl von Speisenden gereicht hätte, an diesem Abend aber kaum genügte. Beim Essen erzählte Shea Menion die seltsame Geschichte, die sich hinter ihrer Flucht aus Shady Vale verbarg. Flick beteiligte sich nicht an der Unterhaltung, weil er beschlossen hatte, Menion nicht zu vertrauen. Er war überzeugt davon, daß es besser war, wenn wenigstens einer von ihnen wachsam blieb.
Menion Leah hörte sich die lange Geschichte an und zeigte keine Überraschung bis zu dem Punkt, an dem Shea von seiner angeblichen Abstammung berichtete. Das schien Menion nicht wenig zu erfreuen. Er hatte sofort begriffen, warum die beiden zu ihm gekommen waren. Allein konnten sie nicht hoffen, von Leah durch das Tiefland von Clete zu den Schwarzen Eichen zu gelangen.
Shea beendete seinen Bericht und wartete geduldig auf Menions Reaktion. Der Hochländer schien in seinen Gedanken verloren zu sein, den Blick auf das halbvolle Weinglas vor sich gerichtet.
»Das Schwert von Shannara«, sagte er schließlich versonnen.
»Ich hatte die Geschichte schon Jahre nicht mehr gehört und sie auch nicht geglaubt. Nun taucht sie aus der Vergessenheit plötzlich wieder auf, zusammen mit meinem alten Freund Shea Ohmsford als rechtmäßigem Erben. Bist du es wirklich?« Er hob den Kopf. »Du könntest auch nur ein Lockvogel sein, ein Köder für diese Wesen aus dem Nordland. Woher haben wir Gewißheit über Allanon? Nach allem, was du mir erzählt hast, erscheint er beinahe so gefährlich wie diese Wesen, die dich verfolgen — vielleicht gehört er zu ihnen.«
Flick zuckte zusammen, aber Shea schüttelte entschieden den Kopf, wobei er sagte: