»Ich kann das einfach nicht glauben. Es ergibt keinen Sinn.«
»Mag sein«, erwiderte Menion nachdenklich. »Mag sein, daß ich alt und argwöhnisch werde. Aber du mußt zugeben, die ganze Geschichte hört sich sehr unglaubwürdig an. Wenn sie zutrifft, kannst du von Glück sagen, auf eigene Faust bis hierher gekommen zu sein. Es gibt sehr viele Geschichten über das Nordland, über das Böse, das in der Wildnis über den Streleheim-Ebenen lauert-Macht, heißt es, über die Fassungskraft jedes sterblichen Wesens hinaus...« Er griff nach seinem Weinglas. »Das Schwert von Shannara. Schon die hauchdünne Möglichkeit, die Legende könnte wahr sein, genügt, um...« Er schüttelte den Kopf und grinste plötzlich.
»Wie kann ich mir die Gelegenheit versagen, das herauszufinden? Ihr braucht einen Führer, der euch zum Anar bringt, und ich bin der richtige Mann dafür.«
»Ich wußte es.« Shea griff nach seiner Hand und drückte sie. Flick ächzte leise, lächelte aber gezwungen. Menion sagte:
»Also, wir wollen einmal sehen, wo wir stehen. Was ist mit diesen Elfensteinen? Zeig sie mir!«
Shea zog den kleinen Lederbeutel heraus und schüttete den Inhalt in seine Hand. Die drei Steine funkelten im Fackellicht in leuchtendem, dunklem Blau. Menion griff nach einem der Steine.
»Sie sind wirklich wunderschön«, sagte er. »Ich wüßte nicht, wann ich dergleichen einmal gesehen hätte. Aber wie sollen sie uns helfen?«
»Keine Ahnung«, räumte Shea ein. »Ich weiß nur, was Allanon uns gesagt hat — daß die Steine nur im Notfall gebraucht werden dürfen und daß sie große Kraft besäßen.«
»Nun ja, ich hoffe, daß er recht hat«, antwortete Menion.
»Ich würde ungern erleben, daß er sich geirrt hat. Aber mit dieser Möglichkeit werden wir uns abfinden müssen.« Er sah zu, wie Shea die Steine in den Beutel zurücklegte und diesen wieder einsteckte. »Von jenem Balinor weiß ich etwas«, fuhr er dann fort. »Er ist ein sehr guter Soldat — ich zweifle, ob wir im ganzen Südland einen besseren finden würden. Von den Soldaten Callahorns wärst du besser geschützt als von den Wald-Zwergen des Anar. Ich kenne die Straßen nach Tyrsis, die alle ungefährlich sind. Aber fast jeder Weg zum Anar führt direkt durch die Schwarzen Eichen — nicht der sicherste Ort im Südland, wie du weißt.«
»Allanon hat uns geheißen, zum Anar zu gehen«, erklärte Shea entschlossen. »Er muß einen Grund dafür gehabt haben, und bis ich ihn wiederfinde, lasse ich mich auf nichts anderes ein. Außerdem hat uns auch Balinor geraten, Allanons Anweisungen Folge zu leisten.«
Menion zuckte die Achseln.
»Das ist bedauerlich, denn selbst wenn wir glücklich durch die Schwarzen Eichen gelangen, kenne ich das Land dahinter nicht sehr gut. Bis zu den Anar-Wäldern soll es praktisch unbesiedelt sein. Die wenigen Bewohner sind Südländer und Zwerge, die uns kaum gefährlich werden dürften. Culhaven ist ein kleiner Zwergen-Ort am Silberfluß im unteren Anar — ich glaube nicht, daß es uns schwerfallen wird, ihn zu finden, wenn wir so weit kommen. Aber zuerst müssen wir durch das Tiefland von Clete, das wegen der Schneeschmelze jetzt besonders gefährlich ist, und dann durch die Schwarzen Eichen. Das wird am schwierigsten.«
»Gibt es denn keinen Umweg?« fragte Shea.
Menion füllte sein Glas und reichte die Karaffe an Flick weiter.
»Es würde Wochen dauern. Nördlich von Leah liegt der Regenbogen-See. Wenn wir diesen Weg nehmen, müssen wir den ganzen See nach Norden durch das Runne-Gebirge umgehen.
Die Schwarzen Eichen erstrecken sich vom See hundert Meilen weit nach Süden. Wenn wir nach Süden gehen und auf der anderen Seite wieder nach Norden kommen, dauert das mindestens zwei Wochen — und es gibt unterwegs keine Deckung. Wir müssen also nach Osten durch das Tiefland und dann durch die Eichen.«
Flick run zelte die Stirn. Er erinnerte sich, wie sie bei ihrem letzten Besuch sich mit Menion in dem gefürchteten Wald mehrere Tage lang verirrt hatten, bedroht von Wölfen, gequält vom Hunger. Sie waren nur knapp mit dem Leben davongekommen.
»Der alte Flick erinnert sich an die Schwarzen Eichen«, meinte Menion lachend, als er die düstere Miene des anderen sah. »Nun, Flick, diesmal sind wir besser vorbereitet. Das Land ist gefährlich, aber niemand kennt es besser als ich. Und dort folgt uns sicher keiner. Wir werden niemandem erzählen, wohin wir gehen. Wir sagen einfach, wir machen einen längeren Jagdausflug. Mein Vater ist mit seinen eigenen Problemen beschäftigt und wird mich gar nicht vermissen. Er ist daran gewöhnt, daß ich oft wochenlang fort bin.«
Shea grinste.
»Menion, ich wußte, daß wir uns auf dich verlassen können. Ich bin froh, dich dabei zu haben.«
Flick rollte die Augen zum Himmel, und Menion, der das bemerkte, konnte der Versuchung, sich auf Flicks Kosten ein wenig zu belustigen, nicht widerstehen.
»Ich finde, wir sollten noch darüber sprechen, was bei der Sache für mich abfällt«, sagte er plötzlich. »Ich meine, was habe ich eigentlich davon, wenn ich dich sicher nach Culhaven bringe?«
»Was du davon hast?« entfuhr es Flick. »Weshalb solltest du —?«
»Schon gut«, unterbrach ihn der andere schnell. »Ich hatte dich vergessen, alter Flick, aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Von deinem Anteil beanspruche ich nichts.«
»Wovon redest du überhaupt?« brauste Flick auf. »Ich hatte nie die Absicht, irgend etwas...«
»Das genügt!« Shea beugte sich mit gerötetem Gesicht vor.
»So kann das nicht weitergehen, wenn wir gemeinsam unterwegs sein wollen. Menion, du mußt aufhören damit, meinen Bruder zu ärgern, und du, Flick, mußt ein für allemal deinen grundlosen Argwohn Menion gegenüber ablegen. Wir müssen einander vertrauen und Freunde sein!«
Menion machte ein Schafsgesicht, und Flick biß sich auf die Unterlippe. Shea lehnte sich zurück, als sein Zorn verflog.
»Gut gesagt«, meinte Menion nach einer Pause. »Hier meine Hand darauf, Flick. Wir schließen wenigstens Waffenstillstand — für Shea.«
Flick betrachtete die ausgestreckte Hand und griff schließlich danach.
»Du bist um Worte nie verlegen, Menion. Hoffentlich meinst du es diesmal ernst.«
Der Hochländer reagierte mit einem Lächeln.
»Waffenstillstand, Flick.« Er ließ die Hand des Talbewohners los und leerte sein Glas. Er wußte, daß er Flick nicht überzeugt hatte.
Es wurde spät, und die drei jungen Männer hatten es eilig, ihre Pläne abschließend zu besprechen und schlafen zu gehen.
Sie einigten sich darauf, am frühen Morgen aufzubrechen.
Menion veranlaßte, daß sie ausgerüstet wurden mit leichter Marschausrüstung einschließlich Rucksäcken, Jagdmänteln, Vorräten und Waffen. Dazu gehörte auch eine Karte der Gebiete östlich von Leah, die aber nicht viele Einzelheiten anzeigte, weil man das Gelände nicht gut genug kannte. Das Tiefland von Clete, vom Hochland östlich bis zu den Schwarzen Eichen reichend, war ein tristes, heimtückisches Moor — auf der Karte aber nur ein weißer Fleck Die Schwarzen Eichen traten auffallend hervor, eine dichte Masse Waldland, vom Regenbogen-See südwärts reichend, wie eine große Mauer zwischen Leah und dem Anar. Menion besprach mit den Brüdern kurz seine Kenntnis des Geländes und der Wetterbedingungen zu dieser Jahreszeit, aber auch hier gab es große Lücken.
Um Mitternacht lagen alle drei in ihren Betten. Shea ließ sich in dem Zimmer, das er mit Flick teilte, in die weichen Kissen zurücksinken und blickte in die Dunkelheit vor seinem Fenster. Der Himmel hatte sich bewölkt, verschwunden war die Hitze des Tages, von den kühlenden Nachtwinden nach Osten verweht. In der ganzen Stadt herrschte friedliche Stille. Flick schlief schon und atmete regelmäßig. Shea betrachtete ihn eine Weile. Sein eigener Kopf war schwer, der Körper wie ausgelaugt, aber schlafen konnte er trotzdem noch nicht. Shea wußte, daß sie, selbst wenn sie den Anar erreichten, keine Ruhe finden würden. Er war allein mit seiner Angst und kämpfte lange dagegen an, bis er endlich einschlief.