Shea nahm die Steine zwischen beide Hände und rieb sie heftig aneinander, schüttelte sie und warf sie wie Würfel in die Luft. Noch immer geschah nichts. Er hob sie langsam von der feuchten Erde wieder auf und wischte sie ab. Ihre dunkelblaue Farbe schien ihn anzuziehen, und er starrte tief in ihr klares, glasartiges Inneres, als sei dort die Antwort zu finden.
»Vielleicht sollst du mit ihnen reden, oder...« Flicks Stimme erstarb, denn Shea veränderte sich merkwürdig.
Das Bild von Allanons dunklem Gesicht, gesenkt und in tiefer Konzentration, tauchte plötzlich vor Sheas innerem Auge auf. Vielleicht war das Geheimnis der Elfensteine auf andere Weise zu entschlüsseln. Er streckte die Hand mit den Steinen aus, schloß die Augen und konzentrierte seine Gedanken darauf, tief in die dunkle Bläue hineinzugreifen, auf der Suche nach der Macht, die sie so nötig brauchten. Stumm flehte er die Elfensteine an, ihnen zu helfen. Lange Momentevergingen, fast wie Stunden. Er öffnete die Augen, und die drei Freunde warteten.
Dann gleißten die blauen Steine plötzlich mit blendender Helligkeit auf, so daß die Männer vor dem Glanz zurückzuckten und ihre Augen bedeckten. Das Leuchten war so stark, daß Shea vor Schreck die kleinen Edelsteine beinahe fallen ließ. Der Glanz wurde immer strahlender und erhellte das tote Land ringsum, wie die Sonne es nie vermocht hatte.
Aus dem dunklen wurde ein grelles Blau, so gleißend, daß die überwältigten Betrachter buchstäblich hypnotisiert waren.
Das Strahlen wuchs, festigte sich und schoß plötzlich wie ein riesiger Lichtstrahl vorwärts, nach links, durchdrang mühelos das neblige Grau und erfaßte einige hundert, vielleicht einige tausend Meter vor ihnen die riesigen, knorrigen Stämme der Schwarzen Eichen. Das Licht verharrte einenAugenblick, dann erlosch es. Der graue Nebel kehrte mit seiner kalten Feuchtigkeit zurück, und die drei kleinen blauen Steine schimmerten schwach wie zuvor.
Menion erholte sich rasch, schlug Shea auf die Schulter und grinste breit. Im Nu hatte er die Last wieder auf dem Rücken und war marschbereit, den Blick schon auf die nun unsichtbare Stelle gerichtet, wo die Schwarzen Eichen aufgetaucht waren. Shea legte die Elfensteine hastig in den Beutel zurück, und die Talbewohner luden sich auch ihre Rucksäcke auf.
Alle drei sprachen sie kein Wort, als sie mit schnellen Schritten die Richtung einschlugen, die der Lichtstrahl angezeigt hatte. Fort war der kalte Hauch der grauen Düsternis, das Nieseln der vergangenen Tage. Fort war die Verzweiflung, die sie noch vor Minuten übermannt hatte. Es gab nur noch die Überzeugung, daß sie dem düsteren Tiefland endlich zu entrinnen vermochten. Sie ängstigten sich nicht mehr, sie glaubten an die Vision, die das Licht der Steine ihnen gezeigt hatte. Die Schwarzen Eichen waren der gefährlichste Wald im Südland, aber in diesem Augenblick schien er ein Hafen der Zuflucht zu sein, verglichen mit Clete.
Die Zeit schien endlos zu sein, als sie weiterliefen. Es mochten Stunden oder auch nur Minuten vergangen sein, als im trübgrauen Nebel endlich riesige, moosbewachsene Stämme sichtbar wurden, die sich hoch in die Luft erhoben und im Dunst verloren. Das erschöpfte Dreigespann blieb stehen und blickte froh auf die düsteren Monstren, die ebenmäßig und endlos vor ihnen aufgereiht standen als eine undurchdringlich scheinende Mauer aus feuchter, zernarbter Rinde auf breiten, tiefverwurzelten Sockeln. Es war ein unheimlicher Anblick im trüben Licht des nebeligen Tieflands, und die Betrachter spürten die unbestreitbare Gegenwart einer Lebenskraft in diesen Wäldern, so unfaßbar alt, daß sie schon dafür eine tiefe, widerwillig gezollte Achtung verdiente.
Es war, als seien sie in eine andere Zeit, eine andere Welt getreten, und alles, was so stumm vor ihnen stand, besaß den Zauber eines verlockend gefährlichen Märchens.
»Die Steine hatten recht«, murmelte Shea leise und lächelte schwach. Er atmete erleichtert auf und grinste schließlich.
»Die Schwarzen Eichen«, sagte Menion bewundernd.
»Dann also das Ganze noch einmal«, meinte Flick seufzend.
6
Sie verbrachten die Nacht im schützenden Grenzbereich der Schwarzen Eichen, in einer kleinen Lichtung, geborgen von den riesigen Bäumen und dichtem Gebüsch, das die Tristheit des Tieflands von Clete keine fünfzig Meter westlich vergessen ließ. Der dichte Nebel löste sich im Wald auf, und siekonnten hinaufblicken zu dem großartigen Dach ineinander verschlungener Äste mit ihrem dichten Laub, über hundert Meter hoch über ihren Köpfen. Wo im tödlichen Tiefland kein Lebenszeichen wahrzunehmen gewesen war, wisperten im Wald die Laute von Insekten und anderen Tieren durch die Nacht. Es war angenehm, wieder Leben zu hören, und die drei Wanderer fühlten sich zum erstenmal seit Tagen erleichtert.
Aber sie vergaßen nicht ihren ersten Marsch durch den Wald, als sie tagelang umhergeirrt waren und sich nur mit Mühe der hungrigen Wölfe erwehrt hatten. Und die Berichte von unglücklichen Reisenden, die versucht hatten, eben durch diesen Wald zu gelangen, waren zu zahlreich, um einfach abgetan werden zu können.
Die jungen Südländer fühlten sich aber in der Nähe des Waldrandes einigermaßen sicher und machten sich dankbar daran, ein Feuer zu entzünden. Trockenes Holz gab es hier im Überfluß. Sie zogen sich ganz aus und hängten ihre feuchten Sachen an eine Leine neben dem Feuer. Sie bereiteten schnell eine Mahlzeit zu — die erste warme seit fünf Tagen — und verschlangen sie binnen Minuten. Der Waldboden war weich und glatt, ein bequemes Bett, verglichen mit der feuchten Erde des Tieflands. Als sie stumm auf dem Rücken lagen und hinauf zu den sanft schwankenden Baumwipfeln blickten, schien das helle Licht des Feuers in schwachen, orangeroten Streif en emporzuschießen, so, als brenne in einem Heiligtum ein Altar. Das Licht tanzte und glitzerte auf der rauen Rinde und dem weichen, grünen Moos, das in dunklen Klumpen an den massiven Bäumen klebte. Die Waldinsekten summten zufrieden. Ab und zu flog eines in die Flammen und verlor mit kurzem Aufleuchten sein Leben. Ein-, zweimal hörten sie das Rascheln eines kleinen Tiers außerhalb des Lichtscheins.
Nach einer Weile drehte Menion sich auf die Seite und blickte Shea an.
»Was ist die Quelle der Kraft dieser Steine, Shea? Können sie jeden Wunsch erfüllen? Ich bin mir immer noch nicht gewiß ...« Er schüttelte den Kopf.
Shea blieb regungslos liegen und starrte nach oben, während er über die Ereignisse des Nachmittags nachdachte.
Dann blickte er zu Flick hinüber.
»Ich glaube nicht, daß ich soviel Einfluß auf sie habe«, sagte er. »Es war beinahe so, als hätten sie die Entscheidung getroffen...« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Ich glaube nicht, daß ich sie beeinflussen kann.«
Menion nickte nachdenklich und ließ sich wieder zurücksinken.
Flick räusperte sich.
»Was macht das? Sie haben uns aus dem scheußlichen Moor geführt, nicht?«
Menion warf Flick einen Blick zu und zuckte die Achseln.
»Es könnte nützlich sein, zu wissen, wann wir uns auf diese Unterstützung verlassen können, meint ihr nicht?« Er atmete tief ein und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Nun, wenigstens sind wir schon so weit gekommen. Und jetzt das nächste Stück...« Er setzte sich auf und zeichnete eine Skizze der Umgebung in die trockene Erde. Shea und Flick richteten sich ebenfalls auf und schauten ihm zu.
»Hier sind wir.« Menion deutete auf einen Punkt der Zeichnung. »Jedenfalls nehme ich das an«, ergänzte er hastig.
»Im Norden liegt der Nebelsumpf, und noch weiter nördlich davon der Regenbogen-See, aus dem der Silberfluß zu den Anar-Wäldern fließt. Am besten marschieren wir morgen nach Norden, bis wir den Rand des Nebelsumpfs erreicht haben.
Wir gehen dann an ihm entlang und kommen auf der anderen Seite der Schwarzen Eichen heraus. Von dort könnten wir schnurgerade nach Norden gehen, bis wir auf den Silberfluß stoßen, der uns sicher zum Anar bringen müßte.« Er sah die beiden anderen an, die nicht gerade glücklich zu sein schienen. »Was ist los?« fragte er verwirrt. »Mit dem Plan kommen wir an den Schwarzen Eichen vorbei, ohne direkt hindurch zu müssen wie beim letztenmal. Vergeßt nicht, daß die Wölfe immer noch da sind.«