Shea nickte und runzelte die Stirn.
»Es liegt nicht am Plan allgemein«, begann er zögernd, »aber wir haben Geschichten vom Nebelsumpf gehört...«
Menion schlug sich verblüfft an die Stirn.
»Ach, nein! Doch nicht die Altweibergeschichte von einem Nebelgespenst, das am Rand des Sumpfes lauert und verirrte Reisende verschlingt? Erzählt mir nicht, daß ihr das glaubt!«
»So etwas mußt ausgerechnet du sagen«, regte sich Flick auf. »Du hast wohl vergessen, wer uns beim letztenmal versichert hat, wie ungefährlich die Schwarzen Eichen sind!«
»Na gut«, sagte Menion. »Ich behaupte nicht, daß das hier eine gefahrlose Gegend ist, in der sich keine seltsamen Wesen herumtreiben. Aber noch niemand hat dieses angebliche Sumpfungeheuer gesehen — die Wölfe aber schon! Was ist euch lieber?«
»Ich finde, dein Plan ist gut«, warf Shea hastig ein. »Doch ich würde es vorziehen, so weit wie möglich nach Osten auszuholen, wenn wir durch den Wald gehen, um den Nebelsumpf zu meiden.«
»Einverstanden!« sagte Menion. »Aber es mag ein bißchen schwierig werden, wenn wir drei Tage lang die Sonne nicht gesehen haben und nicht genau wissen, wo Osten ist.«
»Steig auf einen Baum.« sagte Flick leichthin.
»Auf einen...«, stammelte Menion. »Aber natürlich! Warum ist mir das nicht eingefallen? Ich klettere einfach sechzig Meter an glatter, feuchter, bemooster Baumrinde hinauf, lediglich mit Händen und Füßen.« Er schüttelte verächtlich den Kopf. »Sag mal, bist du verrückt?« Er sah zu Shea hinüber, um sich Bestätigung zu holen, aber dieser war schon bei seinem Bruder.
»Flick, hast du die Kletterausrüstung mitgebracht?« fragte er erregt, und als der andere nickte, schlug er ihm auf die Schulter. »Besondere Stiefel, Handschuhe und ein Seil«, erläuterte er dem verwirrten Menion begeistert. »Flick ist der beste Kletterer im Tal, und wenn einer diese Giganten bezwingt, dann er!«
Menion schüttelte verständnislos den Kopf.
»Die Stiefel und Handschuhe werden vor dem Gebrauch mit einem besonderen Mittel bestrichen, wodurch die Oberfläche so rauh wird, daß sie selbst an feuchter, bemooster Rinde greift. Er kann morgen auf eine der Eichen steigen und den Stand der Sonne feststellen.«
Flick nickte und grinste selbstzufrieden.
»Ja, wahrhaftig, Wunder über Wunder.« Menion klatschte in die Hände. »Sogar die Begriffsstutzigen fangen an zu denken. Freunde, wir können es noch schaffen.«
Als sie am nächsten Morgen erwachten, war der Wald noch dunkel, und nur schwache Spuren von Tageslicht drangen durch die Wipfel der gigantischen Eichen. Vom Tiefland war ein dünner Nebel herangekrochen, der aus der Entfernung so düster und trist wirkte wie zuvor. Es war kalt im Wald — nicht zu vergleichen, mit der feuchten, durchdringenden Kälte des Tieflands, aber doch ausgesprochen kühl. Ein typischer früher Waldmorgen. Sie frühstückten rasch, dann machte Flick sich bereit, auf einen der himmelhohen Bäume zu klettern. Er zog engschäftige, biegsame Stiefel und Handschuhe an, die Shea dann mit einer dicken, salbenartigen Masse aus einem kleinen Behälter bestrich. Menion sah zweifelnd zu, staunte aber, als Flick den Stamm umfaßte und mit einer Behendigkeit, die seiner gedrungenen Gestalt nicht anzusehen war, blitzschnell hinaufkletterte. Er erreichte das Gewirr der Äste und kam nur noch langsamer voran. Als er die obersten Äste erreicht hatte, war er kurze Zeit nicht mehr zu sehen, dann tauchte er wieder auf und kletterte herunter.
Sie packten ihre Sachen ein und marschierten in nordöstlicher Richtung los. Gestützt auf Flicks Sonnenbeobachtung, mußte ihr Weg zu einer bestimmten Stelle am Ostrand des Nebelsumpfs führen. Menion glaubte, daß der Marsch durch den Wald in einem Tag zu bewältigen sei. Es war jetzt früher Morgen, und sie waren entschlossen, die Schwarzen Eichen hinter sich zu lassen, bevor die Dunkelheit hereinbrach. Sie machten nur dreimal kurz Rast und aßen hastig zu Mittag, bevor sie jeweils wieder in größter Eile aufbrachen.
Der Tag verging schnell, und bald zeigten sich die ersten Anzeichen für das Hereinbrechen der Nacht. Der Wald erstreckte: sich noch immer vor ihnen ohne jede Lücke. Schlimmer noch, ein dichter grauer Nebel schien sich wieder ausbreiten zu wollen aber es war eine neue Art von Nebel , beinahe wie Rauch, der sich an Körper und Kleidung festsaugte. Er war, als griffen Hunderte kleiner, klammer, kalter Hände zu und versuchten den Körper niederzuziehen auf den Boden, und die die drei Wanderer verspürten Abscheu. Menion erklärt, daß der klebrige Dunst vom Nebelsumpf stamme und sie sich ganz in der Nähe des Waldrands befinden müßten.
Schließlich wurde der Nebel so dicht, daß sie nur noch ein paar Meter weit sahen. Menion verlangsamte seine Schritte immer mehr und sie blieben nah beieinander, um sich nicht aus den Augen zu verlieren. Inzwischen war der Tag so weit fortgeschritten, daß der Wald auch ohne den Nebel schon beinahe schwarz ausgesehen hätte. Mit der zusätzlichen Trübung, hervorgerufen durch die wirbelnde Wand nebeliger Feuchtigkeit, konnte man kaum den Boden vor den Fußen Unterscheiden Es war fast so, als schwebten sie in einer Vorhölle, wo nur die Festigkeit des Bodens unter ihren Füßen einen Bezug zur Wirklichkeit hatte. Die Sicht wurde schließlich so schlecht, daß Menion die beiden anderen anwies, sich und ihn mit einem Seil aneinanderzubinden damit sie sich nicht verlieren konnten.
Das geschah, und der langsame Marsch ging weiter Menion wußte, daß sie dem Nebelsumpf sehr nah sein mußten, und starrte angestrengt in das Grau.
Als er endlich den Rand des Moors erreichte, nahm er das trotzdem nicht gleich wahr, bis er schon knietief im dicken, grünen Schlick stand. Sein Warnruf rettete Shea und Flick vor einem ähnlichen Schicksal. Sie packten das Seil, mit dem sie aneinander gebunden waren, und zogen ihren Kameraden aus dem Morast. Das trübe, schwarze Wasser tarnte den Schlamm und wer einmal tief genug hineingeriet, war rettungslos verloren. Seit urdenklichen Zeiten hatte die stille Oberfläche unvorsichtige Wesen dazu verlockt, sie überwinden zu wollen, und die Überreste der Unglücklichen lagen nun in der Tiefe. Die drei Reisenden standen am Ufer und starrten entsetzt auf den grausigen Sumpf. Besonders Menion schauderte.
»Was ist geschehen?« rief Shea plötzlich. »Wir hätten den Sumpf doch meiden sollen!«
Menion schaute sich um und schüttelte den Kopf.
»Wir sind zu weit im Westen herausgekommen. Wir müssen um den Morast herumgehen nach Osten, bis wir den Nebel und die Schwarzen Eichen hinter uns haben.« Er machte eine Pause, um die Tageszeit festzustellen.
»Ich verbringe die Nacht nicht an diesem Ort«, erklärte Flick entschieden. »Lieber laufe ich noch, bis ich umfalle.«
Sie beschlossen, am Rand des Nebelsumpfes weiterzugehen, bis sie offenes Land im Westen erreichen würden, und dort zu nächtigen. Shea sorgte sich zwar immer noch, in ungedecktem Gelände von den Schädelträgern entdeckt zu werden, aber seine Angst vor dem Sumpf überwog. Sie zogen das Seil um ihre Hüften fester und gingen hintereinander am unregelmäßigen Sumpfufer entlang, den Blick auf den kaum erkennbaren Pfad gerichtet. Menion führte sie mit Bedacht und mied das Gewirr heimtückischer Wurzeln und Pflanzen, deren verkrümmte und bizarre Formen sie in der Verschwommenheit des wogenden grauen Nebels wie Lebewesen erscheinen ließen. Manchmal wurde der Boden glitschig-weich, gefährlich wie der Sumpf selbst, und man mußte einen Umweg machen. Ein andermal versperrten riesige Bäume den Weg, deren starke Äste sich tief über das grün-schillernde Wasser neigten und wie leblos herabhingen, als warteten sie auf den Tod. Wenn das Tiefland von Clete ein sterbendes Land gewesen war, dann stellte dieser Sumpf den wartenden Tod dar — einen endlosen, alterslosen Tod, der kein Zeichen gab, keine Warnung, keine Regung erkennen ließ, geduckt in eben dem Land lauernd, das er so brutal zerstört hatte. Die eisige Feuchtigkeit des Tieflands herrschte auch hier, aber verbunden mit dem unerklärlichen Gefühl, daß das schwere, stehende Wasser des schleimigen Morasts auch den Nebel durchdrang und gierig nach den erschöpften Wanderern griff.