Der Nebel umwallte sie träge, aber von Wind war nichts zu merken, kein Lufthauch fuhr durch das hohe Sumpf gras oder die mächtigen Eichen. Alles war still, eine Stille des ewigen Todes, der sehr wohl wußte, wer hier der Herr war.
Sie waren vielleicht eine Stunde gegangen, als Shea spürte, daß etwas nicht mehr stimmte. Es gab keinen Anlaß für diese Empfindung; sie erfaßte ihn langsam, bis alle Sinne angespannt waren und versuchten, den Ursprung der Störung zu finden. Er ging stumm zwischen den beiden anderen dahin und lauschte aufmerksam, starrte zwischen den großen Eichen in den Wald, dann auf den Sumpf hinaus. Schließlich stand für ihn fest, daß sie nicht allein waren — daß dort draußen im Unsichtbaren etwas lauerte, verborgen im Nebel, aber fähig, sie zu beobachten. Einen Augenblick lang war der junge Talbewohner so entsetzt, daß er keines Wortes fähig war und nicht einmal eine Geste zustande brachte. Er lief automatisch weiter, das Gehirn wie gelähmt, und wartete auf das Unaussprechliche. Aber dann bezwang er mit ungeheurer Willensanstrengung seine Panik und brachte die beiden anderen Männer abrupt zum Stehen. Menion schaute sich fragend um und wollte etwas sagen, aber Shea legte den Finger an die Lippen und zeigte auf den Sumpf. Flick blickte schon wachsam in diese Richtung, da ihn sein sechster Sinn bereits auf die innere Unruhe seines Bruders aufmerksam gemacht hatte. Lange Augenblicke standen sie regungslos am Ufer, Augen und Ohren auf die undurchdringlichen Nebel gerichtet, die träge über dem toten Wasser schwebten. Die Stille war bedrückend.
»Ich glaube, du hast dich geirrt«, flüsterte Menion schließlich.
»Wenn man so müde ist, bildet man sich manches ein.«
Shea schüttelte den Kopf und sah Flick an.
»Ich weiß nicht«, gestand dieser. »Ich dachte, ich hätte auch etwas erfühlt...«
»Ein Nebelgespenst?« fragte Menion grinsend.
»Vielleicht hast du recht«, räumte Shea ein. »Ich bin todmüde und habe mich möglicherweise täuschen lassen. Gehen wir weiter, damit wir von hier fortkommen.«
Sie machten sich schleunigst wieder auf den Weg, aber in den folgenden Minuten achteten sie immer noch auf alles Ungewöhnliche.
Als nichts geschah, hingen sie anderen Gedanken nach. Shea hatte sich eben eingeredet, daß er einem Irrtum erlegen und seiner überreizten Phantasie zum Opfer gefallen war, als Flick aufschrie.
Augenblicklich spürte Shea, wie das Seil, das sie verband, heftig ruckte und ihn in die Richtung des tödlichen Sumpfes zu zerren begann. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte, unfähig, im Nebel irgend etwas unterscheiden zu können. Einen flüchtigen Augenblick lang glaubte er, seinen Bruder einen Meter über den Sumpf schweben zu sehen, das Seil noch um seinen Körper geschlungen. In der nächsten Sekunde fühlte Shea den kalten Schlick nach seinen Beinen greifen.
Sie hätten alle verloren sein können, wenn nicht die schnellen Reflexe des Prinzen von Leah gewesen wären. Beim ersten harten Ruck am Seil hatte Menion instinktiv nach dem einzigen gegriffen, das nahe genug war, um ihn auf den Beinen zu halten. Es war eine riesige Eiche, deren Äste so tief herabhingen, daß er sich an einem derselben festklammern konnte. Er schlang einen Arm um ihn, packte mit der anderen Hand das Seil und zerrte daran. Shea, schon bis zu den Knien im Morast, spürte, wie das Seil sich straffte, und versuchte mitzuhelfen.
Flick schrie in der Dunkelheit über dem Sumpf auf, und Menion und Shea brüllten gleichzeitig aufmunternde Worte.
Plötzlich hing das Seil zwischen Flick und Shea durch, und aus dem grauen Nebel tauchte die kräftige Gestalt Flicks auf, noch immer über der Wasseroberfläche hängend, die Hüften umfaßt von einer Art grünlichen, tangbewachsenen Greifarms.
Seine rechte Hand umklammerte den langen Silberdolch, der drohend glänzte, als er immer wieder auf das Ding einstach, das ihn festhielt. Shea zerrte heftig an dem Seil, das sie zusammenband, und versuchte seinem Bruder zu helfen, was ihm einen Augenblick später gelang, als der Greifarm in den Nebel zurückschnellte und Flick losließ, der prompt in den Sumpf stürzte.
Shea hatte seinen Bruder kaum aus dem Morast gezogen, ihm das Seil abgenommen und ihn auf die Beine gestellt, als gleich mehrere der grünlichen Arme aus der nebligen Dunkelheit herausschössen. Sie stießen den noch benommenen Flick nieder, und ein Tentakel legte sich um den linken Arm des verblüfften Shea, bevor er ausweichen konnte. Er spürte, wie er zum Sumpf gezogen wurde, und zog blitzschnell seinen eigenen Dolch, um heftig auf den schleimbedeckten Arm einzustechen. Währenddessen erblickte er im Sumpf etwas Riesiges, dessen Masse von der Nacht und dem Nebel verhüllt wurde. Auch Flick wurde wieder erfaßt, sogar von zwei Greifarmen, die ihn in den Morast zu ziehen suchten. Shea befreite sich tapfer von dem Tentakel, indem er ihn durchhackte; als er seinen Bruder zu erreichen versuchte, spürte er, wie ein anderer Arm sein Bein packte und ihn umriß. Sein Kopf prallte an eine Eichenwurzel, und er verlor das Bewußtsein.
Wieder wurden sie von Menion gerettet, der aus der Dunkelheit hervorsprang und das große Schwert schwang. Es durchtrennte mit einem Hieb den Arm, der den bewußtlosen Shea umklammerte. Eine Sekunde später war der Hochländer an Flicks Seite und hackte sich durch die Arme, die aus der Nacht nach ihm griffen. Mit einer Reihe gezielter Hiebe befreite er Flick. Für einen Augenblick verschwanden die Arme im Nebel über dem Sumpf, und Flick und Menion beeilten sich, den ohnmächtigen Shea vom Ufer wegzuzerren. Bevor sie jedoch die Sicherheit der mächtigen Eichen gewannen, stellten Menion und Flick sich vor den Bewußtlosen und hieben auf die Greif arme ein. Der Kampf ging lautlos vonstatten, abgesehen vom Keuchen der beiden Männer, die immer wieder zuschlugen, Fetzen und Stücke aus den Armen hieben, manchmal ganze Teile abtrennten. Aber nichts schien das Ungeheuer im Sumpf bremsen zu können, das nach jedem Hieb mit erneuerter Wut angriff. Menion verfluchte sich dafür, nicht den großen Eschenholzbogen herangeholt zu haben, um versuchen zu können, auf das zu schießen, was sich im Nebel verbarg.
»Shea!« brüllte er verzweifelt. »Shea, wach auf, oder wir sind verloren, beim Himmel!«
Die Gestalt hinter ihm regte sich.
»Steh auf, Shea!« flehte Flick heiser, denn er spürte, wie sein Arm ermüdete.
»Die Steine!« brüllte Menion. »Hol die Elfensteine!«
Shea richtete sich auf, wurde aber sofort wieder umgeworfen.
Er hörte Menion schreien und tastete blind nach seinem Rucksack, der einige Meter entfernt lag, unter peitschenden Greifarmen. Menion schien das im selben Augenblick zu erkennen und stürzte mit einem wilden Schrei vorwärts, mit dem Schwert eine Gasse für die anderen bahnend. Flick folgte ihm, den Dolch schwingend. Shea sprang mit letzter Kraft auch auf und warf sich dem Rucksack mit den kostbaren Elfensteinen entgegen. Er glitt zwischen mehreren Tentakeln hindurch, stieß die Hand in den Rucksack, fand den Beutel, als der erste Greifarm seine ungeschützten Beine umfaßte.
Stoßend und um sich schlagend kämpfte er darum, seine Freiheit für die wenigen Sekunden zu verteidigen, die er brauchte, um die Steine zu finden. Einen Augenblick glaubte er, sie seien ihm wieder entglitten, dann schloß sich seine Hand um den kleinen Beutel, und er riß ihn heraus. Ein plötzlicher Hieb der zuckenden Greifarme entriß ihm die Steine beinahe wieder, und er preßte den Beutel an seine Brust, als er die Schnur aufzog. Flick war so weit zurückgetrieben worden, daß er über Shea stolperte und hinstürzte, so daß die Greifarme auf beide herabstießen. Nun stand nur noch die schlanke Gestalt Menions dazwischen, deren Hände das große Schwert umfaßten.
Shea spürte, fast ohne zu wissen wie, die drei Steine in seiner Hand. Er stürzte nach hinten und raffte sich auf, stieß einen wilden Triumphschrei aus und streckte die Hand mit den schwach leuchtenden Elfensteinen vor. Die darin verschlossene Kraft flammte sofort auf und durchflutete die Dunkelheit mit gleißendem blauem Licht. Flick und Menion wichen zurück und bedeckten die Augen. Die Arme verhielten zögernd, und als die drei Männer einen Blick riskierten, sahen sie das grelle Licht der Elfensteine hinauszucken in den Nebel über dem Sumpf, die Schwaden wie mit einem Messer zerteilend.