Sie sahen den Strahl die riesige, unfaßbare Masse treffen, von der sie angegriffen worden waren und die nun träge im schleimbedeckten Wasser versank. Im selben Augenblick erreichte das Gleißen über dem verschwindenden Ungeheuer die Leuchtkraft einer kleinen Sonne, und auf dem Wasser dampften blaue Flammen, die zum verhüllten Himmel hinaufloderten.
Im nächsten Augenblick waren das blendende Licht und die Flammen verschwunden. Nebel und Nacht kehrten zurück, und die drei Kameraden standen wieder allein im Dunkel des Sumpflandes.
Sie steckten schnell ihre Waffen weg, griffen nach ihren Rucksäcken und eilten zurück unter die riesigen schwarzen Bäume. Der Sumpf blieb still wie vorher, das brackige Wasser zeigte keine Bewegung. Einige Augenblicke lang blieben die Männer stumm, als sie unter den Bäumen zusammensanken und tief atmeten, froh, noch am Leben zu sein. Der ganze Kampf war schnell abgelaufen, wie das Vorbeihuschen eines kurzen, entsetzlichen Augenblicks in einem nur allzu wirklichen Alptraum. Flick war vom Sumpfwasser völlig durchnäßt, Shea bis zu den Hüften. Beide fröstelten in der kalten Nachtluft; nach nur wenigen Augenblicken der Rast standen sie auf und machten sich Bewegung, um der Kälte zu trotzen.
Menion sah ein, daß sie schnell vom Sumpf fort mußten, raffte sich auf und warf sich den Rucksack auf die Schultern.
Shea und Flick folgten seinem Beispiel, wenn auch mit geringer Begeisterung. Sie besprachen sich kurz, um zu entscheiden, welche Richtung sie nun am besten einschlagen sollten.
Die Wahl war einfach: Weitergehen durch die Schwarzen Eichen und Gefahr laufen, sich zu verirren und von den herumziehenden Wolfsrudeln angefallen zu werden, oder am Sumpfufer weitergehen und vielleicht ein zweitesmal mit dem Nebelgespenst zusammenstoßen. Beides verlockte wenig, aber der Kampf mit dem Nebelgespenst war noch zu frisch im Gedächtnis, als daß sie bereit gewesen wären, sich auf eine Neuauflage einzulassen. Sie beschlossen also, im Wald zu bleiben, sich möglichst am Verlauf des Ufers zu orientieren und zu hoffen, daß sie in einigen Stunden offene Landschaft erreichen würden.
Der Marsch ging weiter wie zuvor, mit Menion an der Spitze, Shea einige Schritte hinter ihm und Flick als Nachhut.
Sie schritten schweigend aus, die Sinne auf das ersehnte freie, von der Sonne beschienene Grasland gerichtet, das sie zum Anar bringen würde. Der Nebel schien sich ein wenig zu lichten; während Menion nur ein Schatten war, konnte Shea ihn doch stets vor sich ausmachen. Die Minuten vergingen mit quälender Langsamkeit, dehnten sich zu endlosen Stunden, und sie stapften noch immer durch den nebligen Dunst des Eichenwaldes. Sie konnten nicht mehr beurteilen, wie weit sie gekommen waren oder wieviel Zeit insgesamt vergangen war. Bald spielte das keine Rolle mehr. Sie wurden zu Schlafwandlern in einer Welt halber Träume und wirrer Gedanken, ohne Unterbrechung im ermüdenden Marsch, eingesäumt von den endlosen schwarzen Baumreihen, an denen sie vorbeischritten. Die einzige Veränderung war, daß in der verhüllten Nacht von irgendwo Wind aufkam, zuerst säuselnd, dann zu einem Brausen anschwellend, das die drei Wanderer in seinen Bann schlug. Es rief sie an, erinnerte sie an die Kürze der Tage hinter und vor ihnen, warnte sie, daß sie sterbliche Wesen ohne Bedeutung in diesem Land seien, drängte sie, sich hinzulegen und sich dem Frieden des Schlafes zu überlassen. Sie hörten das lockende Flehen in ihrem Inneren und kämpften mit letzter Kraft dagegen an, konzentrierten sich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen, in nie endender Folge. Noch gingen sie alle hintereinander, im nächsten Augenblick guckte Shea nach vorn und konnte Menion nicht mehr sehen.
Zuerst wollte er es nicht glauben und ging langsam weiter, vergebens nach der schattenhaften Gestalt Ausschau haltend.
Dann, als ihn die Erkenntnis durchzuckte, daß sie getrennt worden waren, blieb er plötzlich stehen. Er griff wild nach seinem Bruder und bekam Flicks Rock zu fassen, als dieser müde gegen ihn taumelte. Flick starrte ihn leer an, ohne zu wissen, warum er stillstand, mit der einzigen Hoffnung, endlich zusammensinken und schlafen zu können. Der Wind schien triumphierend aufzuheulen, als Shea verzweifelt nach dem Hochland-Prinzen schrie und nur das Echo seiner Stimme hörte. Er rief immer wieder, bis sich seine Stimme fast überschlug, aber nichts war zu hören als das Rauschen des Windes in den Kronen der großen Eichen. Einmal glaubte er seinen Namen zu hören; er antwortete hastig und schleppte sich und den erschöpften Flick durch das Baumlabyrinth in die Richtung, aus welcher der Schrei gekommen zu sein schien. Aber da war nichts. Er ließ sich auf den Boden fallen und fuhr fort zu rufen, bis seine Stimme versagte, aber nur der Wind antwortete mit kaltem Brausen, um ihm zu sagen, daß er den Prinzen von Leah verloren hatte.
7
Als Shea am nächsten Tag erwachte, war es Mittag. Das grelle Sonnenlicht flutete mit stechender Kraft in seine Augen, als er wahrnahm, daß er auf dem Rücken im hohen Gras lag. Zuerst konnte er sich an die vergangene Nacht nicht erinnern; er wußte nur, daß er und Flick von Menion getrennt worden waren. Halb wach, schob er sich hoch, schaute sich schläfrig um und sah, daß er auf freiem Feld lag. Hinter ihm ragten die unheimlichen Schwarzen Eichen empor, und er konnte annehmen, daß er nach dem Verschwinden Menions auf irgendeine Weise den Weg allein durch den furchterregenden Wald gefunden haben mußte, bevor er erschöpft zusammengebrochen war. Er konnte nicht begreifen, woher er die Kraft dazu genommen hatte. Er erinnerte sich nicht einmal, aus dem endlosen Wald getreten zu sein, das langgesuchte Grasland vor sich, in dem er jetzt lag. Er rieb sich die Augen und seufzte wohlig in der warmen Sonne und der frischen Luft. Zum erstenmal seit Tagen schienen die Anar-Wälder erreichbar.
Plötzlich fiel ihm Flick ein, und er schaute sich angstvoll nach seinem Bruder um. Einen Augenblick später entdeckte er die stämmige Gestalt schlafend in der Nähe. Shea stand langsam auf, reckte sich und suchte seinen Rucksack. Er fand ihn und kramte darin herum, bis er den Beutel mit den Elfensteinen fand, um die Gewißheit zu haben, daß sie noch in seinem Besitz waren. Dann hob er den Rucksack auf und ging zu seinem schlafenden Bruder, um ihn zu wecken. Flick regte sich unwillig. Shea mußte ihn ein paar Mal rütteln, bevor er endlich widerwillig die Augen öffnete und mürrisch aufsah.
Als er Shea erblickte, setzte er sich auf und schaute sich langsam um.
»He, wir haben es geschafft!« rief er. »Aber ich weiß nicht, wie. Ich erinnere mich an nichts, nachdem wir Menion verloren haben, als an Laufen, Laufen, Laufen — bis meine Beine abzufallen drohten.«
Shea grinste bestätigend und schlug seinem Bruder auf die Schulter. Er empfand plötzlich tiefe Zuneigung zu Flick, einem Bruder, der mit ihm nicht blutsverwandt, aber sein bester Freund war.
»Wir haben es wirklich geschafft«, sagte er lächelnd, »und wir bewältigen auch den Rest des Weges, falls es mir gelingt, dich zum Aufstehen zu bewegen.«
»Man möchte nicht glauben, wie gemein manche Leute sein können.« Flick schüttelte in gespielter Entrüstung den Kopf und stand mühsam auf. Er sah seinen Bruder fragend an.
»Menion... ?«
»Verschwunden... ich weiß nicht, wo...«
»Mach dir keine Sorgen um den Schlingel. Er wird wieder auftauchen — wahrscheinlich im falschen Augenblick.«
Shea nickte stumm, und sie besprachen sich. Sie waren einig darin, daß es am besten sei, nach Norden zu gehen, bis sie den Silberfluß erreichten, der in den Regenbogen-See floß, und dann stromaufwärts bis zum Anar zu wandern. Mit etwas Glück würde auch Menion dem Fluß folgen und sie in wenigen Tagen einholen. Seine Geschicklichkeit und seine Instinkte würden ihm helfen, die Schwarzen Eichen hinter sich zu lassen und ihrer Spur zu folgen. Shea ließ seinen Freund ungern zurück, aber er war verständig genug, zu begreifen, daß jeder Versuch, ihn im Wald zu suchen, nutzlos war. Es blieb nichts anderes übrig, als den Marsch fortzusetzen.