Sie eilten durch das grüne, stille Gelände, in der Hoffnung, bis zum Einbruch der Nacht den Silberfluß zu erreichen. Es war schon mitten am Nachmittag, und sie wußten nicht, wie weit sie noch vom Fluß entfernt sein mochten. Mit der Sonne als Führer fühlten sie sich zuversichtlicher. Sie unterhielten sich miteinander, angeregt vom Sonnenschein, den sie so viele Tage vermißt hatten. Kleine Vögel stoben vor ihnen auf. Einmal glaubte Shea, im Licht der herabsinkenden Sonne im Osten die gebückte Gestalt eines alten Mannes zu sehen, die sich langsam von ihnen entfernte; aber das konnte auch eine Täuschung gewesen sein.
In der Dämmerung entdeckten sie im Norden das lange Band des Silberflusses, des Nährvaters des wundersamen Regenbogen-Sees und tausend abenteuerlicher Geschichten. Es hieß, daß es einen legendären König des Silberflusses gebe, dessen Reichtum und Macht jeder Beschreibung spotteten, dessen einzige Sorge es jedoch sei, daß das Wasser des großen Stroms für Mensch und Tier gleichermaßen rein und unbehindert fließe. Reisende bekämen ihn selten zu Gesicht, erzählten die Geschichten, aber er sei stets zur Stelle, um Hilfe anzubieten, sollte sie gebraucht werden, oder um Verstöße gegen die Ordnung zu bestrafen. Als Shea und Flick den Fluß erblickten, konnten sie nur erkennen, daß er im verblassenden Licht wunderschön aussah, mit der silbrigen Farbe, die sein Name verhieß. Als sie das Ufer endlich erreichten, war es zu dunkel geworden, als daß sie hätten sehen können, wie klar das Wasser wirklich war, aber sie tranken davon und fanden es gut.
Sie fanden am Südufer des Flusses eine kleine Wiesenlichtung unter den schützenden Kronen von zwei breiten, alten Ahornbäumen. Ein idealer Lagerplatz für die Nacht. Selbst der kurze Marsch dieses Nachmittags hatte sie ermüdet, und sie zogen es vor, in der offenen Landschaft nachts nicht umherzulaufen.
Sie hatten ihre Vorräte beinahe schon aufgebraucht, und nach der Abendmahlzeit würden sie sich Nahrung suchen müssen. Das war ein besonders entmutigender Gedanke, da ihre einzigen Waffen für das Erlegen von Wild die kurzen Jagdmesser waren. Auf Menions Langbogen konnten sie ja nicht mehr zurückgreifen. Sie aßen ihre letzten Vorräte stumm und ohne ein Feuer anzuzünden, das sie hätte verraten können. Es schien Halbmond, und die Nacht war wolkenlos, so daß die Tausende von Sternen in der grenzenlosen Galaxis strahlend weiß leuchteten und den Fluß und das Land in ein unheimliches grünes Licht tauchten.
»Hast du über alles nachgedacht, über unser Fortlaufen, meine ich?« sagte Shea, als sie satt waren. »Ist dir klar, was wir eigentlich tun?«
»Das fragst ausgerechnet du?« erwiderte Flick verblüfft.
Shea lächelte und nickte.
»Ich kann dich verstehen, aber ich muß das alles vor mir rechtfertigen, und es fällt mir nicht leicht. Ich begreife das meiste von dem, was Allanon zu uns gesagt hat, über die Gefahren für die Erben des Schwertes. Aber was soll es uns nützen, uns im Anar zu verbergen? Dieser Brona muß es noch auf etwas anderes als das Schwert von Shannara abgesehen haben, wenn er sich solche Mühe gibt, die Erben des Elfen-Hauses zu finden. Was ist das, wonach er sucht... was kann es sein...?«
Flick zuckte die Achseln und warf einen Kieselstein in den Fluß.
»Vielleicht will er die Herrschaft an sich reißen?« meinte er. »Ist das nicht bei jedem so, der ein wenig Macht erlangt?«
»Kein Zweifel«, sagte Shea unsicher und sagte sich, daß diese Form von Machtgier die Rassen dorthin gebracht hatte, wo sie heute waren, nach den langen, bitteren Kriegen, die beinahe alles Leben ausgelöscht hatten. Er sah Flick an.
»Was werden wir tun, wenn wir am Ziel sind?«
»Das wird uns Allanon sagen«, gab sein Bruder zurück.
»Allanon kann uns nicht ewig sagen, was wir zu tun haben «, antwortete Shea. »Außerdem bin ich immer noch nicht überzeugt, daß er uns die Wahrheit über sich gesagt hat.«
Flick nickte und fröstelte unwillkürlich.
»Ich weiß nicht so recht, ob ich die Wahrheit über diese Dinge wirklich wissen will. Ich bin nicht sicher, daß ich sie verstehen würde«, murmelte er.
Shea wunderte sich ein wenig und starrte wieder auf das mondbeschienene Wasser.
»Für Allanon mögen wir nur unbedeutende Leute sein«, sagte er, »aber von jetzt an unternehme ich nichts mehr ohne Grund.«
Die beiden legten sich hin und schliefen bald ein. Trotz der beruhigenden Geräusche des Lebens ringsum und des friedlichen Rauschens der Strömung schob sich mit der Zeit ein unentrinnbares, nagendes Gefühl der Besorgnis heimlich in ihre Traumwelt und wartete dort geduldig. Die beiden Schläfer warfen sich hin und her, unfähig, sich dieses Gefühls zu entledigen.
Vielleicht war es derselbe warnende Schatten, der sich in den unruhigen Gemütern der beiden Talbewohner niedergelassen hatte und sie nun im gleichen Augenblick weckte, den Schlaf aus ihnen vertrieb und sie gewahr werden ließ, daß die Luft von einer eisigen Tollheit erfüllt war, die sie erfaßte und niederzudrücken begann. Sie erkannten sie sofort, und in ihren Augen flackerte Panik, als sie regungslos dalagen und in die lautlose Nacht hineinhorchten. Minuten vergingen, und nichts geschah, aber sie warteten, bis sie endlich das gefürchtete Rauschen riesiger Schwingen hörten und auf den Fluß hinausblickten, wo die enorme, lautlose Erscheinung des Schädelträgers beinahe elegant aus dem Tiefland hinter dem Fluß heranschwebte. Die Talbewohner waren starr vor Entsetzen, unfähig, auch nur zu denken, geschweige denn, sich zu bewegen, als sie verfolgten, wie das Wesen sich näherte.
Es kam nicht darauf an, daß es sie noch nicht gesehen hatte, vielleicht nicht einmal wußte, daß sie in der Nähe waren. In wenigen Sekunden würde es sie jedenfalls wahrnehmen, und den Brüdern blieb keine Zeit, die Flucht zu ergreifen. Shea spürte, wie sein Mund austrocknete, und irgendwo in seinem Gehirn tauchte der Gedanke an die Elfensteine auf, aber er vermochte nicht zu handeln. Er saß gelähmt neben seinem Bruder und wartete auf das Ende.
Wie durch ein Wunder blieb es aus. Gerade, als es so aussah, als müsse der Gehilfe des Dämonen-Lords sie finden, erregte ein Lichtschein am anderen Ufer seine Aufmerksamkeit.
Schnell flog er darauf zu, dann blitzte es weiter unten erneut auf, und wieder — oder irrte er sich? Er suchte eifrig, überzeugt davon, daß die lange Suche ihr Ende gefunden hatte. Trotzdem vermochte er die Lichtquelle nicht zu entdecken.
Plötzlich blitzte es erneut auf, um ebenso schnell wieder zu verschwinden. Das aufgebrachte Ungeheuer fegte darauf zu; es wußte, daß das Licht tiefer in der Schwärze jenseits des Flusses war, irgendwo in den tausend kleinen Senken und Vertiefungen des Tieflands. Das geheimnisvolle Licht leuchtete immer wieder auf, jedesmal weiter landeinwärts fliehend. Die beiden Brüder blieben verborgen im Dunkeln, und ihre angstvollen Augen sahen dem fliegenden Schatten nach, bis er verschwunden war.
Sie blieben noch lange wie erstarrt. Wieder waren sie dem Tod nahe gewesen und noch einmal davongekommen. Sie lauschten stumm auf die Laute von Insekten und anderem Getier, das sich wieder bemerkbar machte. Einige Zeit später atmeten sie auf und blickten einander erstaunt an. Sie wußten, daß das Wesen fort war, vermochten aber nicht zu begreifen, wie sich das ergeben hatte. Bevor sie Gelegenheit hatten, darüber zu sprechen, tauchte das rätselhafte Licht plötzlich auf einer Erhebung mehrere hundert Meter hinter ihnen auf, verschwand kurz und erschien wieder, näher als vorher. Shea und Flick beobachteten es verwundert, als es ein wenig schwankend näherrückte.