Augenblicke später stand ein alter, uralter Mann vor ihnen, gebückt von den Jahren, gekleidet wie ein Holzfäller, das Haar silbern im Mondlicht, mit einem langen, weißen Bart, der säuberlich gestutzt war. Das seltsame Licht in seiner Hand wirkte aus der Nähe grell, und in der Mitte konnte man keine Flamme erkennen. Plötzlich verschwand es, und stattdessen umklammerte die knorrige Hand des alten Mannes einen zylindrischen Gegenstand. Er sah sie an und lächelte.
Shea blickte ruhig in sein altes Gesicht und spürte, daß der seltsame Alte seinen Respekt verdiente.
»Das Licht«, sagte Shea stockend. »Wie...?«
»Ein Spielzeug von Leuten, die lange tot und verschwunden sind«, sagte der alte Mann leise. »Verschwunden wie das böse Wesen dort draußen...« Er zeigte in die Richtung, wohin der Schädelträger davongeflogen war.
»Wir sind unterwegs nach Osten...«, begann Flick.
»Zum Anar.« Die sanfte Stimme unterbrach ihn, der alte Mann nickte. Plötzlich ging er an ihnen vorbei zum Fluß, drehte sich um und bedeutete ihnen, sich zu setzen. Shea und Flick gehorchten ohne Zögern, und sie fühlten sich plötzlich von einer gewaltigen Müdigkeit erfaßt.
»Schlaft, ihr jungen Wanderer, damit eure Reise kürzer sei.« Die Stimme wurde in ihren Gemütern lauter, befehlender.
Sie kamen gegen das Gefühl der Müdigkeit nicht auf und streckten sich auf der Wiese aus. Die Gestalt vor ihnen verwandelte sich langsam, und mit verschwommenem Blick glaubten sie zu erkennen, daß der alte Mann jünger wurde und seine Kleidung anders aussah. Shea murmelte etwas, versuchte wachzubleiben, zu begreifen, aber im nächsten Augenblick schliefen die beiden Brüder ein.
Im Schlaf schwebten sie wie Wolken durch vergessene Tage voll Sonne und Glück in ihrer friedlichen Heimat. Wieder streiften sie durch den heimeligen Duln-Wald und schwammen im kühlen Wasser des Rappahalladran-Flusses, ohne Angst und Sorgen. Sie liefen frei und unbekümmert über Berg und Tal, berührten, wie zum ersten Mal, jede Pflanze, jedes Tier, jeden Vogel und jedes Insekt mit einem neuen Verständnis ihrer Bedeutung als Lebewesen, wie klein es auch sein mochte. Sie schwebten und trieben dahin wie der Wind, rochen die Frische des Landes, sahen die Schönheit des Lebens.
Vergessen waren die langen, harten Tage der Wanderung durch das Tiefland von Clete, vergessen auch die Dunkelheit der Schwarzen Eichen, die Erinnerung an das Nebelgespenst und die verfolgenden Nachtwesen.
Die beiden wußten nicht, wie lange sie der Traumwelt angehörten oder was dort mit ihnen geschah. Als sie erwachten, sahen sie nur, daß sie sich nicht mehr am Ufer des Silberflusses befanden. Sie wußten ebenso, daß die Zeit neu und auf irgendeine Weise anders war; das Gefühl war erregend, aber es bot Sicherheit.
Als Shea langsam zu sich kam, nahm er wahr, daß er von Leuten umgeben war, die ihn beobachteten. Sie warteten. Er richtete sich auf, und sein verschwommener Blick zeigte ihm Gruppen kleiner Gestalten. Aus dem undeutlichen Hintergrund löste sich eine hochgewachsene, beherrschende Gestalt, die sich zu ihm herabbückte.
»Flick?« rief er besorgt und rieb sich die Augen.
»Du bist nun in Sicherheit, Shea«, sagte die tiefe Stimme.
»Das ist der Anar.«
Shea blinzelte und versuchte aufzustehen, aber die große Hand hielt ihn zurück. Sein Blick wurde klar, und er sah neben sich die Gestalt seines ebenfalls erwachten Bruders.
Ringsum standen die gedrungenen, breiten Gestalten der Leute, die Shea sofort als Zwerge erkannte. Shea sah das markante Gesicht der Gestalt vor ihm und den schimmernden Kettenpanzer um Hand und Unterarm, und er wußte, daß die Reise zum Anar zu Ende war. Sie hatten Culhaven und Balinor gefunden.
Für Menion war der letzte Teil des Weges zum Anar nicht so einfach gewesen. Als ihm klargeworden war, daß er die beiden Brüder verloren hatte, war er in Panik geraten. Er hatte keine Angst um sich selbst, dafür aber umso mehr um die Ohmsfords, wenn sie allein versuchen mußten, aus dem Wald der Schwarzen Eichen herauszufinden. Auch er hatte immer wieder gerufen, war blind in der Dunkelheit herumgetappt und schließlich zu dem Schluß gekommen, daß es sinnlos war. Erschöpft war er weiter durch den Wald marschiert und hatte sich mit dem Gedanken getröstet, er werde die anderen schon wiederfinden, sobald es hell werde. Er brauchte länger, als er erwartet hatte, erreichte erst bei Tagesanbruch den Waldrand und sank wenige Meter weiter im Gras zusammen.
Seine Kräfte waren verbraucht, und der Schlaf überfiel ihn augenblicklich. Als er erwachte, schien es ihm, daß er sehr lange geschlafen hatte, aber das war ein Irrtum. Er brach wieder auf, und da er sich weit südlich glaubte, beschloß er, sich sofort nach Norden zu wenden und zu versuchen, die Spur seiner Freunde zu entdecken.
Hastig nahm er den Rucksack auf, schulterte den Bogen, schnallte das Schwert um und eilte in Richtung Norden. Die wenigen Stunden Tageslicht verrannen schnell, und es war schon fast dunkel, als er die ersten Anzeichen bemerkte, daß jemand zum Fluß unterwegs gewesen war. Die Spur war schon einige Stunden alt, und er sah, daß es mehr als eine Person gewesen sein mußte. Menion eilte weiter, und kurz, bevor die Sonne ganz hinter dem Horizont versank, entdeckte er östlich von sich eine Gestalt, welche die Richtung wechselte.
Menion rief den Mann an, der zu erschrecken schien und sich entfernen wollte. Menion hastete ihm nach und rief ihm zu, er wolle ihm nichts Böses. Nach einigen Minuten holte er den Mann ein, der sich als Hausierer erwies und Kochgerät an entlegen wohnende Familien verkaufte. Der Hausierer, arg erschrocken-, starrte den hochgewachsenen Hochländer entsetzt an. Menion beeilte sich, ihm zu versichern, daß er nur zwei Freunde suche, von denen er während der Wanderung durch die Schwarzen Eichen getrennt worden sei. Durch die Schwarzen Eichen!! Das war das Schlimmste überhaupt, was er dem Mann hätte sagen können, der nun endgültig davon überzeugt war, daß sein Gegenüber den Verstand verloren haben mußte. Menion überlegte, ob er sich als Prinz von Leah zu erkennen geben sollte, entschied sich aber dagegen. Der Hausierer erklärte schließlich, er habe zwei Wanderer, die der Beschreibung entsprächen, am Nachmittag in geraumer Entfernung gesehen. Menion wußte nicht, ob der Mann das nur sagte, weil er um sein Leben fürchtete und sich gut mit ihm; stellen wollte. Es blieb ihm aber nichts anderes übrig, als sich damit zufrieden zu geben, und er verabschiedete sich von dem kleinen Mann, der hastig das Weite suchte.
Menion mußte einsehen, daß es schon zu dunkel war, um der Fährte seiner Freunde noch zu folgen, und er hielt Ausschau nach einem geeigneten Lagerplatz. Er fand zwei Fichten, die den besten Schutz zu bieten schienen, und blickte zum klaren Nachthimmel hinauf. Das Licht reichte aus, um dem Wesen aus dem Nordland die Suche nach den Talbewohnern zu erleichtern, und er hoffte inbrünstig, seine Freunde möchten besonnen genug sein, sich ein gutes Versteck zu suchen. Er kroch unter die tiefhängenden Zweige und verschlang den Rest seiner Vorräte, dann wickelte er sich in seine Decke und schlief ein, das Schwert neben sich.
Am nächsten Tag erhob sich Menion mit einem neuen Plan.
Wenn er quer durch das Gelände nach Nordosten ging, würde er die Brüder leichter einholen können. Er war überzeugt davon, daß sie am Silberfluß entlang östlich zum Anar gehen würden, so daß sein Weg und der ihre sich weiter flussaufwärts treffen mußten. Menion gab also die Verfolgung der Fährte auf und lief nach Osten, pfiff vor sich hin und freute sich schon auf die Wiederbegegnung mit Shea und Flick.
Unterwegs dachte er über die Ereignisse der letzten Tage nach und versuchte ihre Bedeutung zu ergründen. Er wusste wenig von der Geschichte der Großen Kriege und der Herrschaft des Druiden-Rates, vom rätselhaften Erscheinen des sogenannten Dämonen-Lords und seiner Niederlage gegen die vereinigten Kräfte von drei Nationen. Am meisten störte ihn, daß er fast gar nichts über die Legende des Schwertes von Shannara wußte, jener Wunderwaffe, die seit so vielen Jahren ein Symbol für Freiheit durch Tapferkeit darstellte. Nun gebührte es einem unbekannten Waisenjungen, halb Mensch, halb Elf. Der Gedanke war so absurd, daß er sich Shea in dieser Rolle immer noch nicht vorstellen konnte. Er begriff instinktiv, daß im Bild noch etwas fehlte, etwas so Grundlegendes, daß die Freunde, ohne es zu kennen, das Rätsel des Schwertes nicht zu lösen vermochten.