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Menion erkannte auch, daß er nicht allein um der Freundschaft willen an diesem Abenteuer teilnahm. In dieser Beziehung hatte Flick gewiß recht. Selbst jetzt konnte Menion nicht genau sagen, warum er sich zu dieser Reise hatte überreden lassen. Er wußte, daß sein Interesse für andere nicht tief genug reichte und er seine Mitmenschen nie hatte wirklich kennenlernen wollen. Er hatte sich nie bemüht, die wichtigen Probleme des gerechten Regierens in einer Gesellschaft zu verstehen, wo das Wort des Monarchen das einzige Gesetz war. Trotzdem spürte er, daß er sich im Grunde mit jedem messen konnte.

Das ebene, grasbewachsene Tiefland verwandelte sich in rauhes, unfruchtbares Gelände, das sich in kleine Hügel und tiefe, grabenartige Täler zerklüftete, so daß er nur noch langsam vorankam. Menion suchte besorgt nach ebenerem Terrain, aber selbst von den steilen Erhebungen aus konnte man nicht weit sehen. Er stapfte unbeirrt weiter, verfluchte jedoch innerlich seinen Entschluß, diese Richtung einzuschlagen.

Seine Gedanken irrten ab, aber plötzlich horchte er auf, als er eine menschliche Stimme vernahm. Er lauschte einige Sekunden lang angestrengt, hörte aber nichts weiter und schob es auf den Wind oder seine Einbildung. Kurz danach hörte er wieder Laute, und diesmal war es der klare Ton einer Frauenstimme, die irgendwo vor ihm leise sang. Er ging schneller und fragte sich, ob seine Ohren ihm einen Streich spielten, doch die Stimme wurde lauter und lauter. Bald erfüllten die verlockenden Töne ihres Gesangs die Luft in fröhlicher, beinahe wilder Hingabe, die in die innersten Tiefen des Hochländers drang und ihn aufrief, ihr zu folgen. Fast in Trance ging er weiter und lächelte breit über die Bilder, die das fröhliche Lied in ihm weckte. Nur nebenbei fragte er sich, was eine Frau in diesem tristen Land suchte, Meilen von jeder Zivilisation entfernt.

Auf dem Kamm einer Anhöhe, die andere Hügel überragte, sah Menion sie unter einem kleinen, verkrümmten Baum sitzen, dessen lange, knorrige Äste ihn an Weidenwurzeln erinnerten.

Sie war ein junges Mädchen, sehr schön und in diesen Gefilden offenbar zu Hause. Sie sang unbeirrt weiter, als er näher kam und sie anlächelte. Sie erwiderte das Lächeln, stand aber weder auf, noch begrüßte sie ihn. Menion blieb vor ihr stehen, aber sie winkte ihn heran und deutete auf den Boden, um zu zeigen, daß er sich zu ihr setzen solle. In diesem Augenblick zuckte in ihm ganz tief ein warnender Nerv. Ein sechster Sinn, der von ihrem Gesang noch nicht eingelullt war, regte sich und verlangte zu wissen, weshalb dieses junge Mädchen einen Fremden auffordern sollte, sich zu ihr zu setzen.

Es gab für sein Zögern keinen anderen Grund als vielleicht das eingewurzelte Mißtrauen, das der Jäger gegenüber allen Dingen empfindet, die in der Natur nicht am rechten Platz zu sein scheinen. Auf jeden Fall hielt der Hochländer inne. In diesem Augenblick löste das Mädchen sich in Rauch auf, und Menion starrte den seltsam verkrüppelten Baum an.

Er zögerte und blickte um sich. Plötzlich öffnete sich der lockere Boden zu seinen Füßen und gab einen dicken Klumpen dicker, knorriger Wurzeln frei, die sich schnell um seinen Knöchel schlangen und ihn festhielten. Menion taumelte zurück, bemüht, sich zu befreien. Für einen Augenblick kam ihm das Ganze beinahe lächerlich vor, aber sosehr er sich auch anstrengte, er kam von den Wurzeln nicht los. Er hob den Kopf und sah, wie der fremdartige Baum — eben noch unbeweglich — sich langsam streckte und auf ihn zu bewegte, die Äste nach ihm reckend, die an ihren Spitzen kleine, aber tödlich aussehende Nadeln trugen. Menion ließ seinen Rucksack und den Bogen fallen und riß das Schwert heraus, als er begriff, daß das Mädchen mit seinem Lied nur eine Illusion gewesen war, um ihn an den Baum zu locken. Er hieb kurz auf die Wurzeln ein und durchtrennte sie hier und dort, aber es ging langsam, weil sie sich so fest um seine Knöchel geschlungen hatten, daß er weit ausholende Hiebe nicht riskieren konnte. Er geriet in Panik, als ihm klar wurde, daß er sich nicht rechtzeitig würde befreien können; er kämpfte das Gefühl aber nieder und schrie seinen Trotz gegen die Pflanze hinaus, die ihn fast schon erreicht hatte. Er holte mit dem Schwert wütend aus, durchtrennte eine Anzahl der zugreifenden Arme, und der Baum zog sich schaudernd ein Stück zurück. Menion wußte, daß er beim nächsten Angriff das Nervenzentrum treffen mußte, wenn er dem Baum den Garaus machen wollte. Aber die unheimliche Pflanze hatte andere Pläne; sie stieß die Arme einzeln vor und besprühte Menion mit den Nadeln. Viele verfehlten ihn, andere prallten harmlos von dem dicken Rock und seinen Stiefeln ab, aber dritte trafen die bloßen Hände und den Kopf und blieben stecken. Menion versuchte sie abzustreifen, während er weiteren Überfällen zu entgehen bemüht war, aber die kleinen Nadeln brachen ab und ließen ihre Spitzen in seiner Haut zurück.

Er spürte eine schleichende Schläfrigkeit und Betäubung in seinen Nerven. Er begriff sofort, daß die Nadeln eine Droge enthielten, die das Opfer des Baumes einschläfern sollten, damit es ihm zur leichten Beute wurde. Wild kämpfte er gegen die Lähmung an, sank aber bald hilflos auf die Knie, unfähig, sich zu wehren. Er wußte, daß der Baum gesiegt hatte.

Aber unfaßbarerweise schien der tödliche Baum zu zögern und dann langsam zurückzuweichen. Hinter Menion wurden Schritte laut. Er konnte den Kopf nicht wenden, um zu sehen, wer sich näherte. Eine tiefe Baßstimme warnte ihn auch davor, sich zu bewegen. Der Baum schien zum Angriff auszuholen, aber kurz bevor er wieder seine tödlichen Nadeln abfeuerte, wurde er von einer schweren Keule getroffen, die über die Schulter Menions flog. Der Baum wurde von dem mächtigen Hieb umgeworfen. Offenkundig verletzt, raffte er sich auf, um weiterzukämpfen. Hinter sich hörte Menion das Sirren einer Bogensehne, und ein langer, schwarzer Pfeil grub sich tief in den dicken Stamm des Baumes. Augenblicklich lockerten die Wurzeln um Menions Füße ihren Griff, zogen sich in die Erde zurück, und der Baum erbebte heftig, schwenkte die Äste und schleuderte seine Nadeln in alle Richtungen. Augenblicke später sank er langsam zu Boden und erschlaffte.

Von der Droge noch immer schwer betäubt, spürte Menion, wie die starken Hände seines Retters seine Schultern packten und ihn auf den Boden legten, während ein breites Jagdmesser die letzten Stränge um seine Füße zertrennte. Die Gestalt vor ihm war ein kräftig gebauter Zwerg, in grüner und brauner Waldbewohnerkleidung. Er war groß für einen Zwerg, etwas über fünf Fuß, und hatte ein kleines Waffenarsenal um seine Hüften gebunden. Er sah auf den betäubten Menion hinunter und schüttelte zweifelnd den Kopf.

»Ihr müßt ein Fremder sein, um so etwas Dummes zu tun«, rügte er mit einer überraschend tiefen Baßstimme. »Niemand, der bei Verstand ist, läßt sich mit den Sirenen ein.«

»Ich komme von Leah... im Westen«, stieß Menion gepresst hervor.

»Ein Hochländer — hätte ich mir denken können.« Der Zwerg lachte auf. »Nun, keine Angst, in ein paar Tagen seid Ihr wieder ganz gesund. Die Droge kann Euch nichts anhaben, wenn wir Euch behandeln, aber Ihr werdet eine Weile nicht bei Besinnung sein.« Er lachte wieder und holte seine Streitkeule. Menion packte ihn mit letzter Kraft am Rock.

»Ich muß zum... Anar... Culhaven«, ächzte er. »Bringt mich zu Balinor...«

Der Zwerg sah ihn scharf an, aber Menion hatte schon das Bewußtsein verloren. Der Zwerg murmelte vor sich hin und hob die Waffen auf. Dann hob er mit erstaunlicher Kraft Menion auf seine breiten Schultern und begann, unablässig vor sich hinmurmelnd, auf die Wälder des Anar zuzustapfen.

8

Flick Ohmsford saß auf einer langen Steinbank in einem der oberen Stockwerke des herrlichen Meade-Gartens in der Zwergen-Gemeinde Culhaven. Er hatte einen weiten Blick auf die erstaunlichen Gärten, die sich in Terrassen über dem felsigen Hügelhang erstreckten, an den Rändern abgeschlossen mit sorgfältig aufgeschichteten Steinen. Die Schaffung der Gärten an diesem einst unfruchtbaren Hang war eine wahrhaft wunderbare Leistung. Man hatte aus fruchtbareren Gebieten besonders reichen Humus geholt und ihn hier abgelagert, so daß das ganze Jahr über im milden Klima des unteren Anar Tausende herrlicher Blumen und Pflanzen gedeihen konnten. Die Farbenpracht war unbeschreiblich. Die zahllosen Farbtöne der Blumen mit den Farben des Regenbogens zu vergleichen, wäre eine große Ungerechtigkeit gewesen. Flick versuchte kurze Zeit, die verschiedenen Schattierungen zu zählen, gab es aber bald auf und wandte seine Aufmerksamkeit den Vorgängen unterhalb der Gärten zu, wo Angehörige der Zwergengemeinde zu ihrer Arbeit unterwegs waren.