Ein seltsames Volk, dachte Flick, so erpicht auf harteArbeit und ein geordnetes Leben. Alles, was sie taten, war gründlich vorausgeplant, sorgfältig ausgedacht bis zu einem Punkt, wo sogar der ähnlich veranlagte Flick den Kopf zu schütteln begann. Aber die Leute waren freundlich und zuvorkommend, von einer Güte, die den beiden Talbewohnern wohl tat.
Sie waren nun schon zwei Tage in Culhaven und hatten noch immer nicht erfahren können, was mit ihnen geschehen war, weshalb sie sich hier befanden oder wie lange sie bleiben würden. Balinor hatte nichts gesagt und nur erklärt, er wisse selbst wenig und sie würden mit der Zeit schon alles erfahren.
Von Allanon war nichts zu sehen und zu hören. Das Schlimmste war, daß es keine Nachricht von Menion gab und man den Brüdern verboten hatte, den Ort zu verlassen, aus welchem Grund auch immer. Zu ihrer eigenen Sicherheit, hieß es. Flick schaute wieder hinunter, um sich zu vergewissern, ob sein persönlicher Leibwächter noch zur Stelle war, und entdeckte ihn etwas abseits. Shea war von dieser Behandlung nicht angetan gewesen, aber Balinor hatte schnell erläutert, daß stets jemand in ihrer Nähe sein müßte, falls man vom Nordland her einen Anschlag auf sie verüben sollte. Flick war sofort einverstanden gewesen, weil er sich nur zu deutlich an die schrecklichen Begegnungen mit den Nachtwesen erinnerte.
Als er Shea den Weg herauf kommen sah, schob er diese Gedanken beiseite, »Etwas Neues?« fragte er, als Shea sich zu ihm setzte.
»Kein Wort«, war die kurze Antwort.
Shea fühlte sich wieder erschöpft, obwohl er zwei Tage Zeit gehabt hatte, sich von der seltsamen Odyssee zu erholen, die sie von Shady Vale zum Anar geführt hatte. Man behandelte sie gut, und die Leute hier schienen um ihr Wohlergehen besorgt zu sein, aber wie es weitergehen sollte, wurde nicht verraten.
Alle, einschließlich Balinor, schienen auf etwas zu warten, vielleicht auf das Erscheinen des langerwarteten Allanon.
Balinor hatte ihnen nicht erklären können, wie sie den Anar erreicht hatten. Auf ein Lichtsignal reagierend, hatte er sie an einem niedrigen Flußufer vor Culhaven gefunden und in den Ort gebracht. Er wußte nichts von dem alten Mann und konnte nicht erklären, wie sie den weiten Weg stromaufwärts zurückgelegt hatten. Als Shea von den Legenden über einen König des Silberflusses sprach, hatte Balinor die Achseln gezuckt und beiläufig gemeint, möglich sei alles. »Keine Nachricht von Menion?« fragte Flick.
»Nur, daß die Zwerge ihn immer noch suchen und es eine Zeit dauern kann«, erwiderte Shea leise. »Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll.«
Flick schaute die Gärten hinunter zu einer kleinen Gruppe bewaffneter Zwerge, die sich um die beherrschende Gestalt Balinors versammelte, als diese plötzlich aus dem Wald auftauchte.
Balinor sprach einige Minuten ernsthaft auf die Zwerge ein. Shea und Flick wußten wenig über den Prinzen von Callahorn, aber die Leute von Culhaven schienen ihn sehr zu achten. Auch Menion hatte in hohen Tönen von Balinor gesprochen. Seine Heimat war das nördlichste Königreich des weitläufigen Südlandes, und sie diente als Pufferzone zum südlichen Grenzland des Nordens. Die Bürger von Callahorn waren vorwiegend Menschen, aber im Gegensatz zu der Mehrheit ihrer Rasse vermischten sie sich frei mit anderen und hingen nicht einer Haltung der Isolierung an. Die hochgeachtete Grenzlegion war dort einquartiert, eine Berufsarmee, befehligt von Ruhl Buckhannah, dem König von Callahorn und Balinors Vater. In den fünfhundert Jahren seit ihrem Bestehen war die Grenzlegion, aufgestellt, um den Vorstoß einer Invasionsarmee aufzufangen, nie besiegt worden.
Balinor stieg langsam den Hang hinauf und grüßte die Brüder mit einem Lächeln, schwieg aber geraume Zeit, als er sich zu ihnen gesetzt hatte.
»Ich weiß, wie schwer das für euch sein muß«, sagte er schließlich. »Alle verfügbaren Zwergkrieger suchen euren Freund. Wenn ihn hier jemand finden kann, dann sie — und sie werden nicht aufgeben, glaubt mir.«
Die Brüder nickten verständnisvoll, und er fuhr fort:
»Das ist für dieses Volk eine sehr gefährliche Zeit, auch wenn Allanon davon wohl nichts erwähnt hat. Sie stehen vor der Bedrohung durch eine Invasion der Gnome im oberen Anar. Es hat an der ganzen Grenze schon Gefechte gegeben, und oberhalb der Streleheim-Ebenen scheint sich eine große Armee zu sammeln. Ihr werdet euch denken können, daß dies alles mit dem Dämonen-Lord zusammenhängt.«
»Bedeutet das, daß auch das Südland in Gefahr schwebt?« fragte Flick besorgt.
»Zweifellos.« Balinor nickte. »Das ist ein Grund, weshalb ich hier bin — um zusammen mit den Zwergen eine übereinstimmende Abwehrstrategie aufzubauen, falls ein Großangriff erfolgt.«
»Aber wo ist dann Allanon?« fragte Shea. »Wird er rechtzeitig genug hier sein, um uns zu helfen? Was hat das Schwert von Shannara mit alledem zu tun?«
Balinor blickte in die fragenden Gesichter und schüttelte langsam den Kopf.
»Ich muß offen gestehen, daß ich euch diese Fragen nicht beantworten kann. Allanon ist eine geheimnisvolle Gestalt, aber er ist ein weiser Mann und zuverlässiger Verbündeter.
Als ich ihn zuletzt sah, vereinbarten wir, uns hier im Anar zu treffen, und er ist schon drei Tage überfällig.«
Balinor verstummte, schaute über die Gärten hinweg zu den hohen Bäumen des Anar-Waldes hinüber und lauschte den Lauten der Zwerge, die unten in der Lichtung ihren Beschäftigungen nachgingen. Dann ertönte plötzlich ein Schrei, der aufgenommen wurde, sich fortpflanzte und vielstimmig heraufbrandete. Die Männer auf der Steinbank standen auf und suchten die Umgebung nach Anzeichen von Gefahr ab.
Balinors Hand griff nach dem Schwertknauf. Augenblicke später lief einer der Zwerge den Hang hinauf und schrie: »Sie haben ihn gefunden, sie haben ihn gefunden!«
Shea und Flick sahen sich an. Der Zwerg kam keuchend vor ihnen zum Stillstand, und Balinor griff nach seiner Schulter.
»Menion Leah ist gefunden worden?« fragte er.
Der Zwerg nickte freudig und rang nach Atem. Wortlos rannte Balinor den Weg hinunter, gefolgt von Shea und Flick.
Sie erreichten die Lichtung innerhalb kürzester Zeit und liefen durch den Wald zum Ort, der einige hundert Meter entfernt war. Vor sich hörten sie das Jubelgeschrei der Zwerge.
Als sie sich durch die Menge zwängten, sahen sie strahlende Gesichter. Ein Kreis von Wächtern ließ sie in einen kleinen Hof treten, der aus Gebäuden links und rechts mit einer hohen Mauer rundherum gebildet wurde. Auf einem langen Holztisch lag regungslos Menion Leah, leichenblaß und scheinbar leblos. Ärzte aus der Zwergengemeinde beugten sich über ihn. Shea schrie auf und stürzte vorwärts, aber Balinors starker Arm hielt ihn fest.
»Pahn, was ist geschehen?« rief Balinor einem der Zwerge zu.
Der Angesprochene, offenbar einer von der Suchmannschaft, eilte herbei.
»Er wird sich erholen, sobald er behandelt worden ist. Man hat ihn, in eine der Sirenen verwickelt, im Schlachthügelland unterhalb des Silberflusses gefunden. Aber nicht unsere Suchmannschaft fand ihn, sondern Höndel, der aus den Städten südlich des Anar zurückkam.«