»Du kommst ein bißchen später als gewöhnlich, Sohn«, meinte er freundlich. »Komm her und iß, solange noch etwas da ist.«
Flick ging müde auf ihn zu, ließ das Bündel klirrend fallen und setzte sich auf einen der großen Hocker. Die große, breite Gestalt seines Vaters richtete sich auf, als er den leeren Teller wegschob und Flick prüfend ansah.
»Ich bin auf dem Weg ins Tal einem Wanderer begegnet«, erklärte Flick zögernd. »Er möchte ein Zimmer haben und essen. Wir sollen uns zu ihm setzen.«
»Nun, wenn er ein Zimmer will, ist er am richtigen Ort«, sagte der ältere Ohmsford. »Wüßte nicht, warum wir uns nicht auf einen Bissen zu ihm setzen sollten — ich kann noch gut eine Portion vertragen.« Er stand schwerfällig auf und bestellte bei den Köchen drei Abendessen. Flick sah sich nach Shea um, konnte ihn aber nirgends entdecken. Sein Vater stapfte zu den Köchen, um ihnen besondere Anweisungen für die Zubereitung zu geben, und Flick trat an das Becken neben der Spüle, um sich Schmutz und Staub von seinem langen Marsch abzuwaschen. Als sein Vater herüberkam, fragte Flick ihn, wo sein Bruder sei.
»Shea macht einen Botengang für mich und muß bald zurück sein«, erwiderte sein Vater. »Wie heißt übrigens der Mann, den du mitgebracht hast?«
»Das weiß ich nicht. Er hat es mir nicht gesagt.« Flick zuckte die Achseln.
Sein Vater runzelte die Stirn und murmelte etwas von schweigsamen Fremden, fügte aber die halblaute Bemerkung hinzu, daß er in seinem Gasthof keine geheimnisvollen Charaktere mehr dulden wolle. Er winkte seinem Sohn und ging voraus, mit den breiten Schultern die Wand streifend, als er zur Gaststube abbog. Flick folgte ihm eilig, das Gesicht zweifelnd zerfurcht.
Der Fremde saß noch immer ruhig da, mit dem Rücken zu den Männern an der Theke. Als er die Hintertüren aufgehen hörte, drehte er sich ein wenig, um die zwei Eintretenden sehen zu können. Er bemerkte die enorme Ähnlichkeit zwischen Vater und Sohn. Beide waren mittelgroß und stämmig gebaut, hatten die gleichen breiten, ruhigen Gesichter und das gleiche graubraune Haar. Sie blieben unter der Tür stehen, und Flick zeigte auf die schwarze Gestalt. Er konnte die Überraschung in seines Vaters Gesicht sehen, als dieser den Fremden eine Weile anstarrte, bevor er auf ihn zuging. Der Schwarze stand höflich auf, er überragte die beiden.
»Willkommen in meinem Gasthof, Fremder«, begrüßte ihn Ohmsford senior und versuchte vergeblich, unter die Kapuze zu blicken, die das dunkle Gesicht des anderen verbarg.
»Mein Name ist Curzad Ohmsford, wie mein Junge Euch wahrscheinlich schon gesagt hat.«
Der Fremde drückte die angebotene Hand mit einer Kraft, daß der bullige Wirt eine Grimasse schnitt, und nickte dann Flick zu.
»Euer Sohn war so freundlich, mich zu diesem behaglichen Gasthof zu führen.« Er lächelte spöttisch, wie es Flick schien.
»Ich hoffe, Ihr leistet mir beim Essen und einem Glas Bier Gesellschaft.«
»Gewiß«, antwortete der Wirt und ging zu einem freien Stuhl, auf den er sich schwerfällig niederließ. Flick zog sich ebenfalls einen Stuhl heran und setzte sich, den Blick noch immer auf den Fremden gerichtet, der gerade dabei war, seinen Vater zu einem so schönen Gasthaus zu beglückwünschen.
Der ältere Ohmsford strahlte vor Freude und nickte Flick befriedigt zu, während er einem der Bediensteten an der Bar winkte, drei Gläser zu bringen. Der hochgewachsene Mann schlug die Kapuze immer noch nicht zurück. Flick hätte zu gerne unter die Schatten hineingeblickt, fürchtete aber, der Fremde könne es bemerken, und ein solcher Versuch hatte ihm bereits schmerzende Handgelenke eingebracht und einen gesunden Respekt in ihm hervorgerufen vor der Kraft und dem Jähzorn des großen Mannes. Es war ungefährlicher, sich nicht zu weit vorzuwagen.
Er saß stumm dabei, als das Gespräch zwischen seinem Vater und dem Fremden sich von höflichen Bemerkungen über das milde Wetter zu einer intimeren Unterhaltung über die Leute und Ereignisse des Ortes wandelte. Flick fiel auf, daß sein Vater, den man ohnehin nicht zu so etwas anzuspornen brauchte, das Gespräch fast ganz allein bestritt, unterbrochen nur von beiläufigen Fragen des anderen. Die Ohmsfords wußten nichts von dem Fremden. Er hatte ihnen immer noch nicht seinen Namen genannt. Im Gegenteil, er lockte aus dem redseligen Gastwirt unauffällig eine Information nach der anderen über das Tal heraus. Die ganze Situation störte Flick, aber er wußte nicht recht, was er dagegen tun sollte. Er wünschte sich, Shea möge auftauchen und sehen, was sich hier abspielte, aber sein Bruder ließ auf sich warten. Man brachte das Abendessen, und erst, als dieses verzehrt war, ging eine der breiten Türen des Haupteingangs auf, und Shea kam aus der Dunkelheit herein.
Zum erstenmal sah Flick den Fremden für eine andere Person mehr als beiläufiges Interesse aufbringen. Kraftvolle Hände umklammerten den Tisch, als die schwarze Gestalt stumm aufstand. Der Mann schien vergessen zu haben, daß die Ohmsfords bei ihm saßen, als die Stirn sich noch tiefer furchte und das zerklüftete Gesicht eine starke Konzentration verriet. Einen schrecklichen Augenblick lang glaubte Flick, der Fremde sei im Begriff, Shea zu vernichten, aber dann ging die Befürchtung unter, verdrängt von einer anderen Erkenntnis. Der Mann erforschte die Gedanken seines Bruders.
Er musterte Shea scharf. Der Blick aus seinen tiefliegenden, verschatteten Augen glitt schnell über die schlanke, schmale Gestalt des jungen Mannes. Er registrierte die Elfen-Anzeichen sofort — ein wenig spitze Ohren unter dem wirren blonden Haar, die bleistiftstrichdünnen Brauen, die im steilen Winkel von der Nasenwurzel schräg hinaufliefen, statt quer über den Augen zu verlaufen, und die schmale Nase, der schmale Kiefer. Ersah in dem Gesicht Intelligenz und Offenheit, und während er Shea gegenüberstand, bemerkte er auch Entschlossenheit in den durchdringenden blauen Augen — Entschlossenheit, die sich als Gesichtsröte über die jugendlichen Züge breitete, als sich die Blicke der beiden Männer ineinanderbohrten.
Shea zögerte einen Augenblick, auf die riesige, schwarze Erscheinung zuzugehen. Er kam sich auf unerklärliche Weise vor wie einer, der in eine Falle getappt war, ermannte sich aber und setzte sich in Bewegung.
Flick und sein Vater sahen Shea herankommen, dessen Blick immer noch auf den Fremden gerichtet war, dann standen die beiden auf, als hätten sie urplötzlich begriffen, wer der Mann sei. Es gab einen Augenblick verlegenen Schweigens, als sie einander gegenüberstanden, dann begannen die Ohmsfords gleichzeitig, einander zu begrüßen, mit einem Stimmengewirr, das die ursprüngliche Anspannung löste. Shea lächelte Flick an, konnte den Blick jedoch nicht von der eindrucksvollen Gestalt vor ihm wenden. Shea war ein wenig kleiner als sein Bruder und stand deshalb noch mehr im Schatten des Fremden als vorher Flick, wirkte aber weniger nervös als dieser. Curzad Ohmsford sprach mit ihm über seinen Botengang, und Shea's Aufmerksamkeit wurde vorübergehend abgelenkt, als er auf die drängenden Fragen seines Vaters antwortete; aber dann wandte er sich wieder an den Fremden:
»Ich glaube nicht, daß wir uns schon begegnet sind, trotzdem scheint Ihr mich von irgendwoher zu kennen, und ich habe das merkwürdige Gefühl, daß ich Euch ebenfalls kennen sollte.«
Das dunkle Gesicht über ihm nickte, wobei wieder das spöttische Lächeln darüber hinweghuschte.
»Vielleicht solltest du mich kennen, auch wenn es nicht verwunderlich ist, daß du dich nicht erinnerst. Aber ich weiß, wer du bist. Ich kenne dich sogar gut.«
Shea war verblüfft von dieser Antwort, wußte nichts darauf zu erwidern und starrte den Fremden an. Dieser hob die schlanke Hand ans Kinn, um sich den schwarzen Bart zu streichen. Er ließ den Blick über die drei Männer vor ihm wandern. Flick öffnete den Mund, um die Frage auszusprechen, die alle drei Ohmsfords bewegte, als der Fremde hinaufgriff und die Kapuze zurückstreifte. Endlich wurde das dunkle Gesicht sichtbar. Es war umrahmt von langen schwarzen Haaren, die bis zu den Schultern reichten und die tiefliegenden Augen verdeckten, welche in den Schatten unter den dichten Brauen noch immer nur als schwarze Schlitze zu sehen waren.