Shea lächelte kurz.
»Nun, die Legende meint, er sei auch hinter diesem Krieg die treibende Kraft gewesen, aber auch das hat sich als Mythos erwiesen. Er soll dasselbe Wesen gewesen sein, das die Armeen der Menschen im Ersten Krieg aufstellte, nur hieß er diesmal der Dämonen-Lord — der böse Widerpart zum Druiden Brimen. Ich glaube, Brimen soll ihn aber im Zweiten Krieg getötet haben. Doch das sind alles nur Erfindungen.«
Flick nickte eifrig, Allanon schwieg. Shea wartete auf eine Bestätigung.
»Wohin soll uns das Ganze eigentlich führen?« fragte er.
Allanon sah ihn scharf an und zog eine Braue hoch.
»Deine Geduld ist erstaunlich gering, Shea. Schließlich haben wir binnen Minuten die Geschichte von tausend Jahren abgehandelt. Falls du dir jedoch zutraust, dich noch kurze Zeit zu bezähmen, glaube ich, dir versprechen zu können, daß deine Frage beantwortet wird.«
Shea nickte geknickt. Es waren nicht die Worte selbst, die schmerzten, sondern die Art, wie Allanon sie aussprach, mit spöttischem Lächeln und kaum verborgenem Sarkasmus. Der Talbewohner erholte sich aber schnell und zuckte die Achseln.
»Nun gut«, sagte Allanon. »Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich nur für den geschichtlichen Hintergrund gesprochen.
Nun kommt der Grund, weshalb ich nach dir gesucht habe.
Ich rufe die Ereignisse des Zweiten Krieges der Rassen in dein Gedächtnis zurück — des letzten Krieges in der neuen Geschichte der Menschen, vor noch nicht fünfhundert Jahren im Nordland geführt. Der Mensch war an diesem Krieg nicht beteiligt; er war der Besiegte des Ersten und lebte tief im Herzen des Südlandes, ein paar kleine Gemeinden, die sich bemühten, die Bedrohung totaler Auslöschung zu überleben.
Dies war ein Krieg der großen Rassen- der Elfen und Zwerge gegen die Macht der wilden Gebirgstrolle und der verschlagenen Gnome.
Nach dem Ende des Ersten Krieges teilte sich die bekannte Welt in die bestehenden vier Länder auf, und die Rassen lebten lange Zeit im Frieden. In dieser Zeit nahmen Macht und Einfluß des Druiden-Rates stark ab, da das Bedürfnis nach seiner Hilfe nicht mehr zu bestehen schien. Man muß gerechterweise hinzufügen, daß die Druiden in ihrer Aufmerksamkeit für die Rassen nachgelassen hatten, und über Jahre hinweg verloren die neuen Mitglieder die Absichten des Rates aus den Augen und wandten sich von den Problemen der Leute ab und persönlichen Dingen zu, führten ein abgeschlosseneres Dasein des Studiums und der Meditation. Die Elfen waren die mächtigste Rasse, beschränkten sich aber auf ihr abgeschiedenes Heimatland tief im Westen, wo sie sich damit begnügten, vergleichsweise abgesondert zu leben — ein Fehler, den sie schwer bereuen sollten. Die anderen Völker zerstreuten sich und bildeten kleinere, weniger geeinigte Gesellschaften, vorwiegend im Ostland, wenn sich auch manche Gruppen in Teilen des West- und Nordlandes niederließen, in den Grenzgebieten.
Der Zweite Krieg der Rassen begann, als eine riesige Armee von Trollen aus dem Charnal-Gebirge herabkam und das ganze Nordland eroberte, einschließlich der Druiden-Festung in Paranor. Die Druiden waren von innen durch mehrere ihrer eigenen Leute verraten worden, die der feindliche Befehlshaber, damals noch unbekannt, mit Versprechungen und Angeboten zu sich herübergezogen hatte. Die verbleibenden Druiden wurden bis auf ganz wenige, die entkamen oder zu der Zeit unterwegs gewesen waren, gefangengenommen und in die Verließe der Burg geworfen. Man bekam sie nie mehr zu Gesicht. Jene, die dem Schicksal ihrer Genossen entrannen, verstreuten sich über die vier Länder und verbargen sich. Die Troll-Armee ging sofort gegen die Zwerge im Ostland vor, in der klaren Absicht, jeden Widerstand so schnell wie möglich zu unterdrücken. Die Zwerge versammelten sich aber tief in den riesigen Wäldern des Anar, die nur sie gut genug kannten, um dort längere Zeit überleben zu können, und hielten sich gegen die Troll-Armeen, trotz der Unterstützung derselben durch einige Gnomen, die sich ihnen angeschlossen hatten. Der Zwergen-König Raybur schrieb in der Geschichte seines Volkes nieder, wen er als den wahren Feind entdeckt hatte — den Rebellen-Druiden Brona.«
»Wie konnte der Zwergen-König das glauben?« warf Shea ein. »Wenn es zuträfe, wäre der Dämonen-Lord über fünfhundert Jahre alt! Ich glaube, irgendein ehrgeiziger Mystiker muß dem König das eingeredet haben, um eine alte, überholte Legende wiederzubeleben — vielleicht, um sich eine bessere Stellung zu verschaffen.«
»Das ist eine Möglichkeit«, räumte Allanon ein. »Aber laß mich fortfahren. Nach langen Monaten des Kampfes wurden die Trolle offenbar in den Glauben versetzt, die Zwerge seien geschlagen, und so wandten sie sich mit ihren Kriegslegionen nach Westen und marschierten gegen das mächtige Elfen-Königreich auf. Aber in der Zeit, als die Trolle gegen die Zwerge gekämpft hatten, waren die wenigen aus Paranor entkommenen Druiden von dem berühmten Mystiker Brimen, einem alten und hochgeschätzten Ratsälteren, versammelt worden. Er führte sie ins Elfen-Reich im Westland, um die Leute dort vor der neuen Bedrohung zu warnen und sich auf die fast sichere Invasion der Nordländer vorzubereiten. Der Elfen-König war in diesem Jahr Jerle Shannara — vielleicht der größte aller Elfen-Könige, mit Ausnahme Eventines. Brimen warnte den König vor dem bevorstehenden Angriff, und der Elfen-Herrscher stellte schnell seine Armeen auf, bevor die Troll-Horden die Grenzen erreicht hatten. Paßt nun gut auf!«
Shea und Flick nickten.
»Brimen gab Jerle Shannara für die Schlacht mit den Trollen ein besonderes Schwert. Wer immer das Schwert auch ergriff, sollte unbesiegbar sein — selbst gegen die unheimliche Macht des Dämonen-Lords. Als die Troll-Legionen das Tal von Rhenn im Grenzgebiet des Elfen-Reichs betraten, wurden sie von den Armeen der Elfen, die aus den Höhen herabkamen, angegriffen, umzingelt und in einer zweitägigen Schlacht schwer geschlagen. Die Elfen wurden angeführt von den Druiden und Jerle Shannara, der das mächtige Schwert trug, das er von Brimen erhalten hatte. Sie kämpften gemeinsam gegen die Troll-Armeen, denen angeblich die zusätzliche Kraft von Wesen aus der Geisterwelt unter der Herrschaft des Dämonen-Lords beistand. Aber der Mut des Elfen-Königs und die Macht des sagenhaften Schwertes überwältigten die Geisterwesen und vernichteten sie. Als die Überreste der Troll-Armeen versuchten, über die Ebenen von Streleheim die Sicherheit des Nordlandes fliehend zu erreichen, gerieten sie zwischen die Elfen-Verfolger und eine Armee von Zwergen, die sich aus dem Ostland näherte. Es kam zu einer mörderischen Schlacht, in der die Troll-Armee fast bis auf den letzten Mann aufgerieben wurde. Während des Kampfes verschwand Brimen von der Seite des Elfen-Königs und stand dem Dämonen-Lord selbst gegenüber. Es steht geschrieben, daß die beiden sich gegenseitig im Kampf vernichteten und nie mehr gesehen wurden. Man fand nicht einmal die Leichen.
Jerle Shannara trug das berühmte Schwert bis zu seinem Tod einige Jahre später. Sein Sohn gab die Waffe dem Druiden-Rat in Paranor, wo die Klinge in einen riesigen Block Tre-Stein gesteckt und in ein Gewölbe in der Druidenburg verbracht wurde. Ich bin sicher, ihr kennt die Legende von diesem Schwert und was es bedeutet für alle Rassen. Das große Schwert ruht heute in Paranor, wie seit fünfhundert Jahren. Habe ich mich verständlich genug ausgedrückt?«
Flick nickte staunend, immer noch gebannt von der erregenden Erzählung, aber Shea entschied plötzlich, daß er genug gehört hatte. Nichts von allem, was Allanon von der Geschichte der Rassen berichtet hatte, war erwiesen. Er hatte ihnen eine Legende erzählt, die seit undenklichen Zeiten von Eltern an kleine Kinder weitergegeben wurde.
»Was hat das alles mit Eurem Erscheinen in Shady Vale zu tun?« fragte Shea abweisend. »Wir haben von einer Schlacht gehört, die vor fünfhundert Jahren stattfand — von einer Schlacht, die nicht einmal etwas mit den Menschen zu tun hat.
Es tut mir leid, aber ich finde die ganze Geschichte schwer verdaulich. Die Erzählung vom Schwert Jerle Shannaras ist bei allen Rassen wohlbekannt, aber sie ist eben nur eine Erfindung, keine Tatsache — eine herausgeputzte Heldengeschichte, um in den Rassen, die daran teilhaben, ein Gefühl der Loyalität und des Pflichtbewußtseins zu erzeugen, ein Märchen für Kinder, ehe sie in die Verantwortung des Lebens hineinwachsen. Warum verliert Ihr Zeit mit dieser Geschichte, wenn ich nur eine schlichte Antwort auf eine schlichte Frage haben will? Warum sucht Ihr mich?« Shea verstummte, als er sah, wie Allanons Gesicht sich vor Zorn rötete und die mächtigen Brauen sich über plötzlich aufleuchtenden Lichtfunken in den Augen zusammenzogen.