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»Achtzehn!«

Der Schleier wurde noch undurchsichtiger. Die Mienen der Umstehenden verschwammen zu einer teigigen Masse.

»Zwanzig!«

Ein Gesicht stach aus der Masse heraus, war plötzlich ganz nah vor ihm. Als wolle der Teufel sein Werk begutachten.

»Zweiundzwanzig!«

Ja, der Teufel!

Es war das Gesicht eines Teufels. Mit der großen, abstoßenden Narbe und der schwarzen Augenklappe. Mit den unbarmherzigen Zügen. Mit der Ausgemergeltheit eines Menschen, der in der Hölle schmorte.

Ein Teufel oder ein Besessener.

»Vierundzwanzig!«

Neuer Schmerz, an der Grenze zum Unerträglichen, ließ das Gesicht wieder verschwinden.

Später konnte Jacob nicht sagen, ob Kapitän Raven tatsächlich so dicht vor ihm gestanden hatte oder ob seine geschwächten Sinne ihm einen Streich gespielt hatten.

»Fünfundzwanzig!«

Jacob wartete auf das heiße Brennen, das kommen mußte. Er wartete lange. Offenbar zögerte der Erste Steuermann der LUCIFER den letzten Schlag besonders lange heraus, um den Delinquenten ein letztes Mal leiden zu sehen.

Dann kam der Schmerz.

Der größte Schmerz!

Aber auch der letzte!

Dieses Wissen hielt Jacobs Geist aufrecht, wenn sein Körper auch zusammenbrach, als man ihn losband.

Auch als er, mit rotzerfetztem Rücken, bäuchlings auf den Planken lag, schwach und hilflos wie ein Neugeborenes, dem erlösenden Schlaf der Bewußtlosigkeit widerstand er.

Es kostete ihn seine letzte Kraft und verursachte weiteren Schmerz. Doch das war es ihm wert.

Sie mochten seinen Körper gebrochen haben, aber nicht seinen Geist.

Diesen letzten Triumph sollten Frenchy, Cyrus Stanford und auch der böse Geist dieses Schiffes, Kapitan John Raven, nicht erleben!

*

An Bord der ALBANY.

Piet Hansen hockte, den bärtigen Kopf in beide Hände gestützt, an dem großen Tisch in der geräumigen Kapitänskajüte, die noch den protzigen Luxus von Hansens Vorgänger Josiah Haskin atmete.

Auf dem Tisch war eine Seekarte ausgerollt und mit verschiedenen Navigationsinstrumenten beschwert: Sextant, Chronometer und Kompaß.

Er benötigte die Instrumente jetzt nicht. Sie dienten nur als Gewichte, um das ungewollte Zusammenrollen der Karte zu verhindern.

Und selbst die Karte war eigentlich überflüssig. Der auf ihr eingezeichnete Kurs erst an den amerikanischen und mexikanischen Teilen Kaliforniens und dann am südamerikanischen Kontinent entlang bis zum sturmumtosten Kap Horn war so fest in sein Gedächtnis eingebrannt wie die Namen sämtlicher Schutzheiliger, die ein Seemann in Notzeiten anflehte.

Der Kapitän der ALBANY hatte die Karte nur auf dem Tisch ausgebreitet, um sich ein wenig von der düsteren Stimmung abzulenken, die seine Seele bedrückte. Doch als er über der Karte saß, war er wieder in dumpfes Brüten verfallen.

Wenn nur schon alles vorbei wäre und er die Fracht an ihrem geheimnisvollen Bestimmungsort abgeliefert hätte! Er würde sich wohler fühlen, wenn er wieder Auswanderer von Deutschland nach Amerika und auf der Rückfahrt Tabak, Reis oder Baumwolle transportierte.

Keine Kanonen!

Er mußte von Sinnen gewesen sein, als er sich auf dieses Abenteuer einließ.

Ein lautes Geräusch riß ihn aus seinen trüben Gedanken, ein energisches Klopfen.

»Herein!« rief er, froh über die Störung.

Als er die blaue Uniform und das verbissene Gesicht von Captain Driscoll erblickte, verschwand der leichte Anflug von Frohsinn wieder. Der Offizier der US-Navy gehörte zu den Männern, die Hansen für seinen Kummer verantwortlich machte.

Bewundernd blickte sich Driscoll in der prunkvoll ausgestatteten Kajüte um, während er zum Tisch trat. Aber rasch wurde sein Gesicht wieder dienstlich, und er richtete seine dunkelgrauen Augen auf den Deutschen.

»Sie kümmern sich gerade um den Kurs, wie ich sehe«, nickte er und zog ein zusammengefaltetes Papier aus der Rocktasche. »Da komme ich ja richtig.«

Als er das dicke Papier auseinanderfaltete, entpuppte es sich ebenfalls als Seekarte. Etwas kleiner als die Hansens, über die Driscoll sein Papier ausbreitete. Seine Karte war mit dem Geheimhaltungsvermerk der Navy versehen.

»Erfahre ich also endlich unseren Zielhafen«, brummte Hansen, halb befriedigt und halb vorwurfsvoll.

»Nein, Käpten. Dies hier ist nur der Kurs, den die ALBANY bis zum Kap Horn einschlagen wird.«

»Das ist kein Kurs«, sagte Hansen mit zerfurchter Stirn, nachdem er sich die gezackte rote Linie, die auf der NavyKarte eingezeichnet war, eingehend angesehen hatte. »Das ist bloßer Unsinn. Wenn die ALBANY das da« - alles in dem alten Seebären weigerte sich, den wirren Zickzack als >Kurs< zu bezeichnen - »befolgt, fährt sie so ziemlich jeden Umweg, den sie nur machen kann. Wir werden Kap Horn mit mindestens zweiwöchiger Verspätung erreichen.«

»Genau«, lächelte Driscoll kalt. »Das ist unsere Absicht.«

Hansen war klar, daß der Soldat damit sich selbst, Commodore Lewis und vielleicht noch andere hochrangige Offizier der US-Navy meinte.

»Ihre vielleicht«, knurrte der alte Seebär unwillig. »Meine bestimmt nicht! Ich bin froh, wenn ich die Fracht endlich löschen kann.«

Das Lächeln verschwand von Driscolls Gesicht. Es war sowieso kein freundliches Lächeln gewesen.

Der Soldat stützte seine Hände auf der Tischplatte auf und beugte sich so weit vor, daß seine Stirn fast die des Kapitäns berührte.

»Ihre persönliche Befindlichkeit ist in keiner Weise maßgebend, Kapitän Hansen«, sagte er im scharfen Ton. »Halten Sie sich immer vor Augen, daß Ihr Kriegsgerichtsverfahren nur aufgeschoben ist, aber noch nicht aufgehoben. Das wird es erst sein, wenn unsere Mission beendet ist. Erfolgreich beendet! Um diesen Erfolg zu garantieren, muß ich darauf bestehen, daß Sie den rot eingezeichneten Kurs genau befolgen.«

Driscoll legte eine Hand auf die Nußholzverschalung des Chronometers, bevor er fortfuhr: »Und geben Sie sich keinen Illusionen hin, mich täuschen zu können, Käpten. Ich kann mit diesen Instrumenten ebensogut umgehen wie Sie. Ich werde den Kurs der ALBANY nachprüfen!«

Hansen versuchte gar nicht erst, seinen Unwillen zu verhehlen. Er konnte aus seinem Herzen keine Mördergrube machen und sagte und zeigte stets, was er dachte. Sein zerfurchtes Seefahrergesicht wirkte wie ein Gewitter, das auf den Soldaten herniederging. Der aber ließ sich davon nicht beeindrucken.

»Und was sage ich meinen Männern?« fragte Hansen. »Sie werden merken, daß die ALBANY so orientierungslos durch den Pazifik kreuzt, als sei die Ruderanlage demoliert.«

»Sagen Sie die Wahrheit«, schlug Driscoll zu Hansens Verblüffung vor.

»Die Wahrheit?« ächzte der Kapitän. »Die kenne ich selbst nicht so genau.«

»Sagen Sie, es sei eine Order der Navy. Die ALBANY fährt diesen Kurs, um mögliche Verfolger zu verwirren und abzuschütteln.«

Hansen bohrte seinen Blick forschend in Driscolls breites Gesicht und fragte lauernd: »Und? Stimmt das?«

Die Miene des Soldaten blieb unbewegt.

»Je weniger Sie wissen, Käpten, desto weniger können Sie verraten.«

»Wem sollte ich hier etwas verraten, Captain Driscoll? Wir sind allein auf hoher See.«

»Wir sind im Krieg«, meinte Driscoll düster. »Da kann es immer unangenehme Überraschungen geben.«

Wie zur Bestätigung seiner Worte hallten in diesem Augenblick Schüsse durch das Schiff. Immer und immer wieder.

Schreie mischten sich in das heftige Geknatter. Hektische Befehle. Und das Geheul Verwundeter oder Sterbender.

Levander Driscoll erbleichte und stieß einen Fluch aus.

Seine rechte Hand fuhr zur Hüfte, riß die Klappe des Lederholsters auf und zog einen Navy Colt heraus.

*

An Bord der LUCIFER.

»Das tut gut«, seufzte Jacob, als die Hände des kleinen, dürren Jock Moulder mit sanfter Geschicklichkeit über seinen Rücken strichen und die zerschundene, brennende Haut mit einer kühlenden Paste einrieben.